Achtung, Achtung. Vierzig Minuten sind gespielt, der Höhepunkt des Tages ist erreicht. Alles wartet auf … ja: Das abschließende Voice-Over.
Zur Erklärung: Voice-Over wird gemeinhin als allerletztes Mittel einer Fernsehserie bezeichnet, um auch wirklich allen Zuschauern noch einmal die dünne bis sehr dünne Quintessenz der jeweiligen Folge näher zu bringen. Sozusagen eine dramaturgische Atombombe: Hinterher steht garantiert nichts mehr. Jede fragile Struktur eines Handlungsbogens wird ebenso wie der angestrengte Versuch einer „realistischen“ Charakterentwicklung ausgelöscht und dem Erdboden gleich gemacht.
Schlussendlich bleibt nur eines: Die leicht nachhallende Stimme des Hauptprotagonisten mit solch fundamentalen Weisheiten wie „und am Ende erklärte sie uns was sie eigentlich damit meinte und wir sahen sie von nun an mit anderen Augen“ … gibt es schönere Scheiße?
Immer noch nicht klar was ein Voice-Over ist?
Ein kurzes Beispiel:
Nehmen wir eine beliebige Krankenhausserie. Nennen wir sie … ähm … Rachels Urologie … ja, klingt nach einem Gassenhauer! Okay, also Folge Sechzehn der ersten Staffel. Der Titel der Episode lautet „Letzter Wille“!
Rachel hat zu beginn der Folge einen neuen Patienten bekommen. Nennen wir ihn Steve. Steve hat Lungenkrebs im Endstadium. Da gibt es nicht viel zu machen, außer: … und hier setzt das dramatische Element ein! … Steve ist gerade einmal siebzehn Jahre alt … noch Jungfrau und hat noch nie auch nur ein Mädchen geküsst. Die durchaus reizend aussehende Rachel, ihre leicht promiskuitive, beste Freundin Maggie und ihr tölpelhafter Mitbewohner Ryan fahren also mit Steve nach Las Vegas. (Ach ja, damit die Reisekosten nicht in die Millionen gehen: Rachels Urologie spielt natürlich in Californien … da Los Angeles zu ausgelutscht ist, hat man sich für den feinen Vorort Santa Barbara entschieden … ach, und nochwas: Wem auffällt das eine Urologin wie Rachel kaum Lungenkrebspatienten wie Steve bekommt, dem wird in den ersten dreißig Seriensekunden und im Eröffnungs-Voice-Over damit geholfen, dass Chefarzt Nigel, in den Rachel natürlich insgeheim verliebt ist, Rachel den Patienten sozusagen ‚übergibt‘ … warum? Weil Nigel – und das ist unser Nebenplot der Folge „Letzter Wille“ – zur Beerdigung seines Onkels muss!) Wo waren wir? Ach ja, Las Vegas: Erster Außendreh der ersten Staffel. Die Einschaltquoten sind gut, jetzt geben wir Geld aus!
Während also Nigel nach Ohio … alle sterbenden Serienonkel leben in Ohio … unterwegs ist, fahren Rachel, Freundin Maggie und Mitbewohner Ryan (der irgendwie seit Folge Eins ziemlich schwul wirkt … trotzdem aber schon drei unglaublich schöne Frauen in Folge 4, 6 und 9 hatte!!!) sowie natürlich der todkranke Steve … für den man ja nichts mehr machen kann … und der, der Einfachheit halber, seine Eltern vor zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall verloren hat (die würden sonst Stress machen) … dieses Quartett der amerikanischen Serienheiligkeit fährt also nach Las Vegas. Dort angekommen, begibt sich Maggie erstmal mit ihrem Monatsgehalt ins Casino, Mitbewohner Ryan und Lungekrebsopfer Steve wollen zusammen in einen Stripclub und Rachel … ja, Rachel gerät an einen jungen Mann vom Valet-Parking der sie nur allzu gut von Nigel – der ja in Ohio ist – ablenkt. Soviel Aufbau, fünfundzwanzig Minuten sind rum, kommen wir zum extrem in die Länge gezogenen Schlusspunkt:
Was ist wichtig für den weiteren Verlauf der Serie?
Nigel wird bei der Testamentseröffnung seines Onkels aus Ohio eine hübsche Praxis in … Ohio! … überschrieben und er überlegt sich tatsächlich ob er nicht nach Ohio! gehen soll um seinem Traum als Kinderarzt! endgültig nachzukommen.
Maggie verliert all ihr Geld … und noch mehr beim Roulette: Weswegen sie in Folge Siebzehn bei Rachel einziehen muss, was im weiteren Verlauf zu allerlei Chaos und lustigen Wohngemeinschafts-Witzigkeiten führt. Und Ryan und Steven?
Ja … Ryan und Steven wollen zuerst eine Prostituierte für Steven auftun … natürlich wehrt sich Steven dann doch gegen gekauften Sex … immerhin ist er das moralische Opferlamm im Serienschlachthof … da kann er keine Liebe per Barscheck annehmen … also muss Ryan alleine ran … und weil der halb-schwul-Mitbewohner als hübscher Draufgänger angelegt ist, bekommt man eine dreißig Sekunden Vorspiel-Sex-Musik-Einlage Marke Baywatch zu sehen und auch die männlichen Zuschauer sind zufrieden.
Rachel sitzt derweil mit ihrem Valet-Parking-Boy (der unglaubliche Ähnlichkeit mit Luke Perry hat!!!) im Restaurant und sieht dann Steve vorbeilaufen … Nein, jetzt passiert nicht was man denkt! Rachel soll emotional auch noch für ein paar mehr Folgen glaubhaft sein, also bringt sie Steve nur ins Hotel und lässt ihn dann dort Essen aufs Zimmer bestellen.
Jetzt kommt das Happy-End … Steve bekommt das Essen von einer jungen Kellnerin (die er natürlich schon bei der Ankunft in der Lobby gesehen hat und die ihm zuzwinkerte … !natürlich!) serviert und sie bleibt bei ihm auf dem Zimmer … nein, kein Sex … aber der benötigte Kuss!
Das ganze läuft ungefähr so ab:
Klopf, Klopf. „Herein.“ „Hi. Ich bringe das Essen.“ „Hm … danke.“ Verschmitztes Lächeln. „Schönes Zimmer. Wo ist deine Freundin?“ „Welche Freundin?“ „Na, das Mädchen mit dem du in der Lobby angekommen bist.“ „Oh … äh, nein … die ist nicht meine Freundin … ähm … meine … Schwester.“ „Cool.“ Verschmitztes Lächeln von ihr … Übergang mit Musik.
(Wenn einem nichts mehr einfällt: Übergang mit Musik. Und da soll noch einer glauben Steven hatte noch keinen Kuss … er sieht zwar elend aus, aber so scheiße nun auch wieder nicht.)
Rachel findet übrigens den Valet-Parking-Boy nicht wieder … sondern telefoniert an einer Telefonzelle, die natürlich formschön am Las Vegas Boulevard steht (mit großartiger Lichterkulisse im Hintergrund!), mit Nigel in Ohio und weint ganz bitterlich weil er nun vielleicht … vielleicht auch nicht … nach Ohio zieht!
Ja … und nun zum Voice-Over: (Wie? Man hätte die ganze Vorrede mit der Serie nicht gebraucht?)
Generell ist zu sagen, dass Voice-Over mit einem ‚Manchmal‘ oder einem ‚Meistens‘ anfangen … es kann auch ein beschwingtes ‚Die Dinge die uns…‘ oder ein ‚Oftmals ist es so…‘ sein.
Diesmal hört sich das Abschluss- Voice-Over von Rachel, die natürlich schon das Eingangs- Voice-Over gesprochen hat, ungefähr so an:
„Manchmal passieren in einer Nacht so viele Dinge, dass man am nächsten Morgen gar nicht mehr genau weiß was davon ein Traum und was davon Wirklichkeit war. Es passieren schreckliche und beängstigende Dinge, und es passieren abgefahrene und einfach wunderschöne Dinge.“
Während dieser ersten Sätze des Abschluss- Voice-Overs sehen wir eine Montage unserer Helden, unterlegt mit Gitarrenmusik und einer säuselnden Südstaaten-Pop-Newcomerin. Wir sehen, bei ’schrecklich‘ und ‚beängstigend‘, zuerst Maggie die heulend in einem Hotelflur sitzt und sich den zerflossenen Lidschatten über die Wangen wischt, anschließend sehen wir Rachel, die ganz alleine, traurig und versonnen vor einem Wasserbassin mit Springbrunnen steht (genau jenes Wasserbassin mit Springbrunnen, welches wir noch aus Ocean 11 kennen!). Zu den Stichworten ‚abgefahren‘ und ‚wunderschön‘ sehen wir zuerst einen grinsenden Ryan umschlungen von zwei unbekleideten Mädels, nur mit Zipfeln aus Satin verhüllt, und wir sehen Steve: Steve unser stetig blasser (warum sind todkranke Amerikaner eigentlich immer blass? Die können doch theoretisch auch ins Sonnenstudio gehen…) … und traurig dreinschauender Lungenkrebspatient, wie er lächelnd und zufrieden – absolut kreusch und angezogen natürlich! – neben der Kellnerin einschläft.
Die letzten Sätze von Rachel im Voice-Over werden gesprochen, während die Musik schon leicht im Hintergrund verklingt und sie und Ryan über den morgendlichen Hotelflur laufen. Er erzählt ihr lachend seine Geschichte und sie schaut nur melancholisch ins Leere. Sie sammeln die verheulte Maggie ein und treten vor ihre Zimmertür:
„Eines ist aber sicher: Egal was in einer solchen Nacht auch passiert sein mag, danach folgt immer ein neuer Morgen.“
Plötzlich hören Rachel, Maggie und Ryan einen Schrei aus ihrem Zimmer. Schnell schließen sie auf und stürmen ins Zimmer.
„Vielleicht ein neuer Morgen mit Überraschungen … aber auf jeden Fall ein neuer Morgen.“
Im Zimmer finden sie die junge Kellnerin, die gerade neben einem toten Steve aufgewacht ist. Sie ist in Panik, schützend legt Ryan seinen Arm um sie. Maggie ruft einen Krankenwagen.
Rachel tritt ans Bett und sieht sich – den noch blasseren und erkalteten – Steve an.
Merkwürdig: Er scheint zu lächeln.
Rachel legt den Kopf schief.
„Allerdings: Nicht alle erleben diesen neuen Morgen. Nicht alle …“
Abblende.
In your Face …
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