Nachtgespräch

Alleine stand ich am Bahnhof. Mein Atem deutlich sichtbar.
Für eine Weile wartete ich, fragte mich die Dinge, die man sich in kalten Nächten eben so fragt, und irgendwann begann ich auf dem Bahnsteig auf und ab zu gehen.
Oft frage ich mich: Wie sieht das wohl von Außen aus, was ich gerade mache?
Was denken die Anderen über mich? Man hat so gar keine Ahnung wie man auf Wildfremde wirkt.
In dieser Nacht war mir das egal. Nicht weil es mir egal war, sondern weil ich nicht dran dachte. Ich ging einfach. Ganz selbstverständlich einen Schritt nach dem nächsten machend.
Plötzlich stand sie vor mir:
„Hi.“
Für einen Moment wich jeder Ausdruck aus meinem Gesicht. Hätte ich einen Lolli im Mund gehabt, dies wäre die Szene in der er mir rausgefallen wäre.
„Hi.“, antwortete ich erstaunt und fasste mich erst langsam wieder.
„Kalt, oder?“, sagte sie und es war nicht als Frage gemeint. Es war auch keine Feststellung, kein hilfloser Versuch die Stille zu überbrücken, es war ein Ausblick. Ein Einblick, vielleicht. Etwas das gesagt werden musste. Klar: Es war kalt. Aber wie sie es sagte: Jetzt war es offensichtlich. Nun brauchte man sich nicht mehr damit beschäftigen. Sie hatte einen Punkt gemacht. Es ging weiter. Damit war das Thema abgehakt.
„Ja.“, sagte ich tonlos und versuchte ein Lächeln. Sie nahm es auf und lächelte zurück.
Eine blonde Locke fiel ihr über die Stirn und pulsierte wie eine Sprungfeder auf und ab. Ihre dunkelgrünen Augen fixierten mich und dann lächelte sie noch etwas breiter. Normalerweise fallen mir Augenfarben nicht auf. Nicht mal das blonde Locken wie pulsierende Sprungfedern aussehen, so was sage und denke ich nicht. Aber bei ihr: Ihre Haut war zart rosa, beinahe strahlend weiß. Mir fiel ein, dass Günther Grass mal seitenlang die Konsistenz von Kartoffelsuppe beschrieben hat.
„Wartest Du in die eine oder in die andere Richtung?“
Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie auf die eine und auf die andere Bahnsteigkante. Ich folgte ihrer Bewegung und nickte dann links neben mich.
„In diese Richtung.“
„Ah. Dann warten wir also nicht zusammen.“
„Scheinbar nicht.“
„Findest Du es nicht komisch dass man zusammen warten, aber doch nicht zusammen warten kann?“
„Nein.“
Ich hätte Ja sagen können, aber Nein schien mir passender. Ich wusste nicht mal ansatzweise wovon sie redete.
„Nein?“
Sie rümpfte die Nase.
„Nein. Finde ich nicht komisch.“, sagte ich und forderte mein Glück heraus.
Für einen Augenblick sah sie mich durchdringend an, dann grinste sie wieder.
„Du hast nicht den blassesten Schimmer wovon ich rede, stimmt’s?“
Ich nickte.
„Kein Problem.“, sagte sie.
„Okay.“, antwortete ich.
„Wusstest Du, dass ‚okay’ zwar das bekannteste Wort der Welt ist, aber niemand genau weiß wo es herkommt?“
„Nein. Wusste ich nicht.“
„Ist aber so.“
„Ich bin kein großer Fan von Allgemeinwissen. Sorry.“, sagte ich und vergrub meine Hände noch tiefer in den Taschen.
„Muss Dir nicht Leid tun. Ich arbeite in einer Bibliothek, deswegen. Wovon bist Du ein großer Fan?“, fragte sie und atmete einmal tief durch ihre leicht gerötete Nase ein.
„Ich weiß nicht: Fußball vielleicht.“
„Ja? Welche Mannschaft.“
„Berlin.“
„Du meinst Hertha?“
„Und Du weißt bestimmt was ‚Hertha’ bedeutet?“
„Weiß ich wirklich, aber jetzt sag ich’s Dir nicht mehr.“
„Warum nicht?“
„Du warst zu frech.“
„Sorry.“
„Niemand sagt heutzutage noch ‚Entschuldigung’. Alle sagen ‚Sorry’. Eine Schande ist das.“
In diesem Moment fuhr auf der anderen Seite des Bahnsteigs eine S-Bahn ein und sie drehte sich um. Zwei Türen wurden geöffnet und auch nur zwei Personen stiegen aus.
Sie wandte sich wieder zu mir:
„War nett Dich zu treffen.“
Ich wollte etwas cleveres, etwas passendes erwidern. Irgendwas, was nicht so klang als hätte ich einen begrenzten Wortschatz. Stattdessen sagte ich: „Okay.“
Sie grinste, huschte schnell quer über den Bahnsteig, stieg in die wartende Bahn und weg war sie.
Es wurde noch kälter bis meine Bahn endlich kam. Auf dem Weg nach Hause fiel mir ein woran mich all das erinnerte:
Ein paar Tage vorher hatte ich auf dem Bürgeramt am Empfang meine Wartenummer abgeholt. Hinter dem verglasten Schalter saß eine ältere Frau und hörte Radio über einen alten Weltempfänger. Es lief ein Lied das ich noch nie gehört hatte. Ich nahm meine Wartenummer entgegen und bekam dabei knapp eine Strophe mit. Das Lied war unglaublich gut. Nicht besonders eingängig, aber trotzdem: Unglaublich gut. Überraschend, nicht unanspruchsvoll und trotzdem von wunderschöner Klarheit.
Als ich mich im Warteraum des Bürgeramtes hinsetzte war das Lied nicht mehr zu hören, und als mir die Idee kam, neben dem Empfang auf die Titelnennung des Radiosprechers (welche heutzutage leider keine Selbstverständlichkeit mehr ist) zu warten, waren schon zehn Minuten vergangen und es liefen die Nachrichten. Ich könnte alle Bibliotheken in Berlin … ich meine: Alle neuen oder alten Alben im Plattenladen durchhören, aber irgendwie wäre das nicht richtig.
Man trifft sich doch immer zwei Mal im Leben und man kann zusammen warten, auch wenn man nicht zusammen wartet.

2 Gedanken zu „Nachtgespräch

  1. Anonymous

    wow….wegen solcher Beiträge bin ich immer wieder gespannt auf Neues in Deinem Blog….

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