Nach dem Holozän

Man stelle sich also vor auf dieser Party zu sein: Und da trifft man sie…
Ehrlich gesagt: Man stelle sich vor es wäre meine Party. Mein Geburtstag.
Das heißt also: Alles beginnt bei mir zuhause. In der Dusche.

Würde man diesen Teil des Abends mit einem Teil der Erdgeschichte vergleichen, es wäre das Hadaikum. Hadaikum ist das erste Äon, oder die vorgeologische Ära, ungefähr viereinhalb Milliarden Jahre her.
Ich steh’ also unter der Dusche und muss mich entscheiden: Welches Duschgel man nimmt, kann einen fundamentalen Einfluss auf den Verlauf des Abends haben.
Ähnlich dem … genau, dem Hadaikum. In dieser Zeit wurde aus der zähflüssigen Magmakugel, die um die noch junge Sonne kreiste, die Erde. Noch wichtig war dabei: Theia.
Theia war ein marsgroßer Protoplanet, der wie ein Meteor auf der Erde einschlug und durch heraus gebrochenes Magma den Mond bildete, außerdem die Eigenrotation der Erde ankurbelte und für eine deutliche Abkühlung sorgte, wodurch Leben erst möglich wurde. So ähnlich wie ein Deo, oder ein gutes T-Shirt … Hemden sollen auch wirken.
Ich entschied mich für Parfüm. Nicht das normales Deo nicht auch ausreicht … Ich bin der Meinung, gut zu riechen ist unabdingbar. Jeden Tag. Ich weiß natürlich: Man kann mir vorwerfen dadurch unnatürlich zu sein, aber ehrlich gesagt: Ich riech lieber gut und bin unnatürlich, als zu stinken und mich meiner herrlich nasekräuselnden Natürlichkeit zu erfreuen. Also Parfüm. Davidoff (es ist eine Party und mein Geburtstag, etwas Luxus muss sein!). Darüber ein Hemd. Weiß, aber mit hochgekrempelten Ärmeln, Easy-Iron (ich wollte nicht spießig daherkommen). Etwas das sagt: Ich habe Stil, aber kann auch zugreifen. Sozusagen, bestimmt sein ohne ein Fehlen von Klasse.

Nach den Vor-Vorbereitungen, der Dusche, dem Anziehen und zur Party fahren, kam die eigentliche Vorbereitung im Partyraum.
Ich hatte eine Kneipe gemietet. Nicht zu groß (für etwa 80 Leute) und nicht zu gestylt (ich wollte das sich alle wohlfühlen). Dort angekommen beginnt das Herrichten: Musik aufbauen, Buffet installieren (mit Buffet meine ich Chips, Tortillas, Dips) und die richtige Beleuchtung finden. Beleuchtung, so denke natürlich nur ich, ist auf Partys geradezu kritisch bis lebensbedrohlich (für die Party, nicht für mich):
Wenn das Licht zu hell ist … niemand tanzt, weil sich keiner (und keiner die anderen) dabei ertragen kann. Zu dunkel … irgendwann knutscht man mit der Falschen … es ist ein Minenfeld!!!
So ein bisschen wie das Archaikum.
Wenn wir uns also immer noch im Präkambrium des Abends, der Vorphase, befinden, ist die Einrichtung der „Location“ ein eigenes Äon der Erdgeschichte. Es ist der Augenblick wenn es Makromoleküle, durch die Anlagerung anderer Moleküle, schaffen sich zu vergrößern und dann selbst zu reproduzieren. Leben entsteht … wenn alles richtig läuft. Richtiges Licht, richtige Temperatur … auf einer Party darf es nicht zu kühl sein, ebenfalls darf man nicht so sehr schwitzen das jemand beim Tanzen umkippt.
Im Archaikum bildet sich zudem die Atmosphäre und erstmals wird Sauerstoff freigesetzt, der für die folgenden Jahrmillionen und für alle Lebewesen unabdingbar ist.

Was uns zum Proterozoikum des Abends bringt: Der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre steigt und erstmals (mittlerweile durch Fossilen nachgewiesen) kann man von tierischem Leben sprechen. Die ersten Gäste kommen.
Es sind die Frühstarter, keine Frage. Viele von ihnen sind die, die schon um halb elf wieder gehen, aber einige halten es bis ganz zum Schluss durch (meistens weil sie sowieso niemand zum Tanzen auffordert, oder sich keiner mit ihnen unterhält, weswegen sie irgendwann einfach in einer Ecke einschlafen).

Und dann geht es los: Kurzes Durchatmen … Das Paläozoikum, oder Erdaltertum ist erreicht. Vor 542 Millionen Jahren, im ersten Paläozoischen-Systems des Kambriums, gibt es einen Einschnitt in der weltweiten Verteilung des Kohlenstoff-Isotops C-13. Globale Erwärmung (damals ohne Probleme und Al Gore) setzt ein und der Meeresspiegel steigt. Plötzlich findet man (besser gesagt man findet heute, damals tauchten sie nur erstmals auf) die Trilobiten, und zwar ganze Schwärme. Das besondere: Sie sind zwei klein und unscheinbar, sehen aus wie Kakerlaken, haben aber ein Kalkskelett. (Außen zwar, nicht sehr schicklich, aber immerhin!)
Irgendwas hat sie angelockt, irgendwas aus ihren Höhlen getrieben und auf einmal sind sie da.
Ob es die besten Verbindungen mit dem ÖPNV an diesem Abend sind, oder ein abstinenter Kumpel der eine große Gruppe von Freunden zur Party fährt, oder die Happy-Hour die ich mit dem Besitzer der Kneipe vereinbart habe (und die Kindl für Einsfünfzig rausgibt) … man weiß es nicht, aber: Plötzlich füllt sich der Raum und die Party beginnt.
Was folgt sind die berüchtigten Phasen (Systeme): Ordovizium, Silur, Devon, Karbon … immer mehr und mehr Arten tummeln sich (Hip-Hop wird gespielt, kurz mal Rock, Drum-and-Base, Elektro …). Fische bilden sich heraus, Korallen … und dann passiert der Gau: 50% der Arten sterben aus. Das Perm ist erreicht und damit das letzte System des Paläozoikums. Hier folgt das größte Massensterben der Erdgeschichte.
Wissenschaftler meinen: Durch eine Absenkung des Sauerstoffgehaltes im Wasser wurde ein Sterben provoziert und gleichzeitig die Herausbildung der Amphibien beschleunigt.
So auch auf der Party. Die ersten Gäste gehen. Besser gesagt: All jene die mir gratulieren wollten, und auch wirklich nur gratulieren wollten (oder Pärchen sind und schnell wegmüssen), sie gehen. Irgendwann, einfach so. Irgendwas ist passiert, ich weiß nicht was: Das Bier ist wieder teurer, die Bahnen fahren gleich nicht mehr … was auch immer. Sie sind auf jeden Fall weg.
Was dann noch kommt: Nachtschwärmer & Nachzügler.
Willkommen im Mesozoikum.

In der Zeitspanne zwischen 251 und 65 Millionen Jahren (vor heute) befinden wir uns im Erdmittelalter. Auf unerklärliche Art und Weise starben vor dem Mesozoikum mehr als drei Viertel aller Arten aus. Die Erde, die Kneipe ist verwaist. Große Lücken auf der Tanzfläche.
Und die Welt wird wie wir sie kennen. (Wüst & leer? Nein! Überschaubar und wunderschön.) Die ersten Blütenpflanzen entstehen, die ersten Bäume und die ersten größeren und kleineren Säugetiere. Und auch sie. Das Mädchen meiner Träume.
Dort ist sie und neben ihr entstehen die Dinosaurier.
Fast das gesamte Erdmittelalter hindurch dominieren die Dinosaurier die Tanzfläche. Passend unpassend wird von Queens of the Stone Age bis zu Metallica alles gespielt. Als ich zum zehnten Mal angeschrien werde doch endlich JBO zu spielen, beschließe ich dann die Erdneuzeit einzuläuten:

War am Anfang des Mesozoikums noch alles eine Gruppe, ein Superkontinent (nennen wir ihn des spaßeshalber „Pangaea“), driften die Kontinente bis zur Erdneuzeit, dem Känozoikum, auseinander. Klimazonen richten sich ein, dass Wetter stabilisiert sich und der Atlantik wird geschaffen.
Viele sagen: Es war ein Meteorit, der auf Yucatán einschlug, und zum Aussterben der Dinosaurier führte … ich sage: Mit der Erdneuzeit kam die Chill-Out-Mucke.
Zu Massive Attack, Kruder & Dorfmeister und Portishead sitzen nun alle – die vom zweiten Massenaussterben der Erdgeschichte übrig geblieben sind und sich weiterentwickelt haben – auf den verteilen Sofas und Bänken herum. Einzeln werden Colas bestellt, weil man schon nicht mehr gerade gucken kann.
Die Alpen falten sich auf, dass heutige Europa (vielleicht ohne die Grenzen) beginnt in seiner Gestalt uns nun ziemlich bekannt vorzukommen und mit der letzten Eiszeit vor 2,8 Millionen Jahren kühlt sich alles auf normal runter und der Nordpol entsteht. (Der Südpol entstand schon 35 Millionen Jahre früher, aber sprechen Sie ihn nicht darauf an: Er ist da empfindlich.)

Die jüngste geologische Epoche der Erdgeschichte ist das Holozän. Es dauert von vor 11700 Jahren bis heute an. Der Sonnenaufgang jeder Party.
Man hat all das übrig Gebliebene und die gebrauchten Plastikbecher, jedenfalls die die nicht auf der Tanzfläche platt getreten wurden, in großen Mülltüten eingesammelt und bringt es raus auf die Straße. Über der Stadt hängt dieser kühle Dunst und feucht schimmernde Morgenluft. Man atmet kurz durch und meint: Den letzten Jägermeister hätte ich nicht trinken dürfen. Dann tritt sie aus der Kneipe.
Sie ist extra länger geblieben. Ihre beste Freundin hat schon im Mesozoikum die Flucht ergriffen, sie aber hat getanzt. Mit den Dinosauriern und nachdem diese ausgestorben waren weiter zu „Teardrop“, zu „Roads“ und zum ganzen DJ-Kicks-Album.
Man sieht sie an und lächelt. Ich sehe sie an und lächle.
„Was machst Du nach dem Holozän?“, möchte ich fragen.
Irgendein Bäcker hat bestimmt schon auf und es gibt warme Croissants.
Eigentlich mag ich keine Croissants, aber sie mag die bestimmt und man ist ja nur einmal jung.
Sie lächelt zurück.

2 Gedanken zu „Nach dem Holozän

  1. Power

    Früher war mehr Lametta… 😉
    Den Anfang des Kindergeburtstags fand ich besser, aber auch so eine Party beginnt eben manchmal etwas holprig, nicht?
    Bis morgen!

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