Dies ist kein Nachruf war das erste Buch was ich von Gunnar Patrick Modesohn gelesen habe. Das war zwei Wochen nach seinem Tod.
Die Geschichte handelt von einem Holzfäller der alleine im Wald seine Arbeit verrichtet und von einem Baum halb erschlagen wird. Im Übergang von Leben zu Tod verfasst er seinen eigenen Nachruf. Mit schwindenden Kräften kehrt er in die eigene Kindheit zurück und erkennt: Sein gesamtes Dasein war vorprogrammiert, er wusste nur nichts davon. Sich mit dem Schicksal auseinandersetzend wird klar: Es gibt keine Vergangenheit. Wir wissen es nur nicht, oder noch nicht.
Halbe Sachen, dass waren Gunnar Patrick Modesohns Geschichten. Geschichten aus einer Zwischenwelt. Niemals passierte etwas ganz, auch wenn es eigentlich nur ganz geschehen kann. Aus „erschlagen“ wurde „halb erschlagen“. Die Tat an sich passiert, nur die Auswirkungen lassen noch auf sich warten, oder: Unser Erkennen lässt auf sich warten. So habe ich seine Literatur kennen gelernt, nachgerückt.
Erfahren habe ich von ihm im Winter 2007 durch einen kleinen Artikel auf der Seite einer schwedischen Tageszeitung im Internet. Dort stand: „Gunnar Patrick Modesohn in Uppsala an einem Spielzeugauto erstickt.“ Ich hatte damals noch nichts von dem, in Literatenkreisen verehrten, Autor mit deutschen Wurzeln gehört. Die Überschrift machte mich neugierig. Im weiteren Verlauf des Artikels wurde der Polizeichef von Uppsala zitiert, der über die Umstände des Todes sagte: „Wer an einem Spielzeugauto krepiert muss irgendwas zu kompensieren haben.“
Tatsächlich war Gunnar Patrick Modesohn an einem roten Porsche 911 im Maßstab 1:55 erstickt. Wie es dazu kam ist relativ simpel: Zeit seines Lebens sammelte und ordnete Modesohn Spielzeugautos. Dies tat er auch in seinem Sommerhaus in Uppsala. Fast viertausend Autos soll er dort gehabt haben. Im Garten stand ein altes Schwimmbecken, mit Heizung, auch für die kalten Tage im Sommer. Unter dem Einfluss von, was die schwedische Presse als „unmenschlich viel Heroin“ bezeichnete, schmiss Modesohn alle seine Sammler-Spielzeugautos in den leeren Pool und sprang dann nach. Er tauchte nie wieder auf.
In knapp einem Monat erscheint nun sein letztes Werk. Endlich übersetzt aus dem Rumänischen von Bengt Jösensen. Es heißt: Sinnbildlich ausgedrückt und ist eine Reise in die verwinkelte Welt der Zeichen und Buchstaben. Modesohn beschreibt darin, typisch für ihn in einer Sprache die nicht seine eigene ist (er sich aber zu seiner eigenen gemacht hat), wie es die Buchstaben unserer Sprache, in unseren Zeitschriften und Büchern schaffen, sich aneinander anzulehnen, sich zu Gruppen zusammenzustellen um dann für uns ein Bild, ein Foto, ein Gesamtsymbol zu werden. Geradezu liebevoll nähert sich das kleine a dem kleinen n an, zusammen sind sie stark und „fast nicht wieder voneinander zu trennen“, wie Modesohn schreibt. Da ist es wieder: Dieser Zustand des halben, des noch nicht ganzen oder eben nur das „fast“.
Geboren wurde Gunnar Patrick Modesohn im kleinen Ort Drüsen, ganz in der Nähe von Mölln. „Drüsen war der Kesselraum für die siedenden Begierden meiner Jugend“, schrieb Modesohn 1989 in einem seiner ersten veröffentlichten Essays Heimatwanderwege um Mölln. Modesohn war damals einundzwanzig Jahre alt. Seine Jugend hatte er im Reihenhaus der Eltern als Einzelkind verbracht, umgeben von (wie er es beschrieb) „den einschnürenden Möglichkeiten die aufgeklärte und interessierte Eltern ihren grundlos wütenden, sich den Silberstreif ersehnenden Kindern bieten“. Mit Sechzehn schloss er die Hauptschule ab, wie damals schon von allen festgestellt: „Nicht aus Unvermögen, aus Unwillen.“ So sprach sein Klassenlehrer über ihn. Die Mutter, eine studierte Kulturwissenschaftlerin und nach Gunnars Geburt leidenschaftliche Hausfrau, drückte es 2008 in einem Interview mit der mare zum Erscheinen von Gunnar Patrick Modesohns Meersonaten so aus: „Gunnar war nicht dumm, er war sogar ausgesprochen begabt. Sprach fließend Englisch, Französisch und Polnisch. Aber er wollte, auf Teufel komm raus, sein Wissen mit niemandem teilen. Wir wussten nur das er all diese Sprache beherrschte, weil wir ihn dabei erwischt hatten wie er mit Andrzej Wajda telefonierte und sogar auf polnisch scherzte.“
Früh hatte sich eine enge Freundschaft zwischen dem älteren, polnischen Regisseur Wajda und dem noch jungen und gierigen Modesohn entwickelt. Sie trafen sich zum ersten Mal bei der Premiere von Wajdas Film Eine Liebe in Deutschland in Berlin. Aber Modesohn war nie einfach ein Schüler des deutlich älteren Mannes, Wajda war nie ein Mentor. Man schien auf Augenhöhe. Später schrieb Modesohn in seiner oft nachgedruckten Rezension von Wajdas Film Die Karwoche: „Andrzej ist in der Lage aus einer Geschichte auch den letzten Rest Falschheit heraus zu pressen und lässt das übrig, was alle Geschichten sind: Totes Leben. Aber das ist lebendiger, weil es das einzige Leben ist, dass keine Zukunft hat.“
Nach seinem gerade einmal ausreichenden Hauptschulabschluss verließ Gunnar Patrick Modesohn 1984 das Elternhaus und reiste nach Hong-Kong. In einem Brief an den Vater, der als Prüfer für das Finanzamt Mölln seinen Sohn immer mit dem nötigen Kleingeld ausgestattet hatte, schrieb Modesohn: „Papa. Ich verabscheue Dein Geld. Ich verabscheue Deine Sparsamkeit. Es ist doch nur ein temporärer Zustand. Nichts von Dauer. Geld ist nicht aus Stein. Bitte schick mir zweitausend Mark, ich will hier einige Zeit bleiben.“
In seinen drei Jahren in Hong-Kong schrieb Modesohn viele seiner Jahre später erst unter dem Titel Freificken von Gestern veröffentlichten Kurzgeschichten. Er kam ausgebrannt und mit der Syphilis Anfang 1987 zurück nach Mölln und erlebte in stiller Einsamkeit, im Kinderzimmer seiner Jugend den Mauerfall.
Nach dem die Grenzen offen waren zog Modesohn nach Berlin. Arbeit hatte er zu Beginn keine, schaffte dann aber die ersten Veröffentlichungen von Essays und Kurzgeschichten. Darunter auch die Geschichte Latenz, in der ein SS-Offizier durch ein Zeitloch zuerst nach Ost-Berlin 1968 fällt und später nach Bonn im Jahre 1990. Latenz wurde sowohl mit dem Kleist-Preis als auch dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Danach standen Modesohn plötzlich alle Türen offen. Drei Jahre schrieb er an seinem ersten Roman. Als 1994 Kann man auf Füße stolz sein erschien, hatte ihn die Fachwelt schon fast wieder vergessen. Aber eben nur „fast“. Der Roman erhielt überwältigende Kritiken und verkaufte sich hervorragend. Die Geschichte beschreibt den Weg eines jungen Mannes der von Mölln nach Berlin wandert und zwar barfuss und ohne Pause. Auf dem Weg, der durch zunehmende Schmerzen beschrieben wird und in denen Modesohn von der Kritik verbrieft die wohl „deutlichsten und erschreckend-wirklichkeitsnächsten Beschreibungen von physischen Schmerzen“ abliefert, begegnet der namenlose Protagonist nicht nur seinen Eltern immer wieder, auch sich selbst. Die zeitlich und räumlich verzerrte Reise endet mit blutigen Stümpfen wo einst die eigenen Füße waren. Füße die das selbst und das Selbstbewusstsein einer jungen Seele wie selbstverständlich tragen und nach und nach, durch Elternhaus und Selbstzweifel, abgerieben und am Ende abgetrennt werden. Zurück bleibt ein „Fußloser unter Fußlosen“, wie sich Modesohn in Berlin selbst beschreibt.
Gerade der kommerzielle Erfolg, vor allem in der Studentenszene Berlins, machte Modesohn schwer zu schaffen. In einem seiner wenigen Fernsehinterviews, als Gast der Talkshow 3 nach 9 gesteht er im Sommer 1995 Juliane Bartel: „Ich kann diese verwahrloste Gesellschaft nicht mehr sehen. Die mit ihren Büchern und ihren Zeitschriften wie Medaillen umherstolzieren. Ich würde sie am liebsten alle töten. Nein, streichen sie das. Ich würde sie leben lassen, aber dazu verdammen die Inhalte einmal wirklich zu verstehen. Jeder der die Inhalte einmal verstanden hat, läuft nicht mehr mit dem Buch vor dem Bauch umher. Nie mehr.“
Gequält von der Angst von der Masse verstanden und damit in seiner Aussage verwässert zu werden, zieht sich Modesohn 1996 nach Westdeutschland zurück und zieht – nach dem Tod des Vaters – wieder bei seiner Mutter ein. In der Folgezeit erscheinen eher sporadisch Werke von ihm, wie die Fabelsammlung Preisgekröntes Grimm-Märchen ohne Menschen, aber mit Tieren die sprechen. Die damaligen Werke, so ist sich später die Kritik einig, zeichnen sich vor allem durch sprachliche Aspekte aus. Seine Wortfindungen, -umdeutungen und –verklärungen werden überall in der geeinten Bundesrepublik aufgenommen und sogar darüber hinaus. In Polen erscheinen seine Werke in Sammelbänden und von ihm selbst übersetzt. Modesohn beginnt weitere Sprachen zu lernen. Rumänisch, Bulgarisch und sogar Chinesisch nimmt er sich vor und meistert schnell alle Hürden auf seinem Weg. Bis zu seinem Tod, so wird angenommen, lernte er vierundzwanzig unterschiedliche Sprache und konnte sich in fast allen mühelos und geschickt, mündlich wie schriftlich, ausdrücken. Doch die Zeit nach 1995 ist geprägt von einem deutlichen Rückgang seiner inhaltlichen Stärke. Sein Lieblingsthema, die „Zerrissenheit zwischen ganz und nicht, das halb“ (wie er in seiner Kurzgeschichte Ich bin die Hundeleine noch 1990 schreibt) verschwindet fast ganz aus seinen Erzählungen. Gipfel dieser Entwicklung ist der Veröffentlichung seines fünftes Romans Kataloge 2002, welcher zwar durch Sätze wie „Schlafend sind Kinder oft wach anzutreffen“ brilliert, allerdings eine einheitliche Handlung vollkommen vermissen lässt. Der Literaturkritiker Denis Scheck hat den Roman passend als „die Geschichte ohne Geschichte, die wie alle Geschichten ein Anfang und eine Ende haben will, aber weder noch besitzt. Das ist schon alles worum es geht.“ zusammengefasst.
Nach Kataloge bricht Modesohn dann aus. Er zieht nach Schweden, reist eine Zeit umher und lässt sich schließlich 2004 in Uppsala nieder. Hier schreibt er noch drei Bücher: Dies ist kein Nachruf, So viele Kreidefelsen und keine Tafel und Sinnbildlich ausgedrückt. Am 19. November 2007 wagt er dann den Sprung in das Schwimmbecken voller Spielzeugautos. Nachrufe werden von Verehrern und Kollegen auf der ganzen Welt verfasst und überall veröffentlicht. Doch kaum einer kennt die wahren Texte. Kaum einer kennt den wahren Gunnar Patrick Modesohn. Niemand wusste von seiner Drogensucht, von den Potenzproblemen nach der frühen Syphilis und den neurologischen Auswirkungen, die sich in krankhaftem Selbsthass und Hass auf den Vater zeigen. Einige Biographen behaupten auch, dass es in Kindertagen zu einer Vergewaltigung kam. Nichts davon lässt sich mit Fakten belegen.
Viele Autorenkollegen zitieren ihn gerne, entnehmen Wortkonstruktionen oder ganze Sätze seiner Bücher. Aber kaum einer hat ihn wirklich gekannt, kannte ihn persönlich.
In Andrezj Wajdas jüngstem Film Tatarak tritt in einer Szene ein junger, verstört vor sich hinblickender Mann auf. Er ist hager, erinnert in Statur und durch zerzauste Haare an die wenigen Bilder die von Gunnar Patrick Modesohn existieren. Der unbenannte Mann, der nur im Drehbuch als G.P.M. auftaucht hat nur drei Sätze, dann geht er wieder ab und kommt nicht zurück:
„Ich war nie ganz da. Ihr kennt mich nicht, doch liebt ihr mich. Sterbt nicht wie ich, oder doch, auf jeden Fall ist es euer Leben und es ist vorbei.“