Fast Erwachsen seit fast zehn Jahren (in Berlin) [verfasst am 4. Februar]

Zum Aufwärmen ein wenig Alltagspoesie:
Der Zeitgeist in Berlin scheint dieser Tage das Knirschen unter den Schuhen zu sein, welches bis in die hintersten Regalgänge bei Kaisers den Streusplitt trägt. Schneeweiß wird zu Matschbraun, nur um dann als Dreckschwarz zu verklumpen. In Festungsstärke umrankt so die Schmutz gewordene Wintererinnerung Stromkästen und Laternenpfeiler. Einzig die Gewissheit das es irgendwann weg sein wird, dass trübe Zeug, einzig das erhält den Kampfgeist. Aber: Genug der Trauermär.

Ich lebe, atme, laufe und arbeite auch ab und an nun seit knapp 10 Jahren in Berlin. Na ja, bald sind es neun, doch das Aufrunden gefällt mir: Mit fast 29 bin ich knapp 30 und mit 1 ½ Zimmern und raus aus der WG bin ich schon fast erwachsen.
Es ist anders, als es vor knapp zehn Jahren war. Wohnungen sind beinahe immer noch gut zu kriegen, aber eben nur beinahe. Und das obwohl man beinahe die gleichen Ansprüche wie vor 10 Jahren hat, beinahe jedenfalls.

Vor knapp 10 Jahren hab ich auch deutlich mehr ferngesehen, soweit die gute Nachricht. In der WG, am Sonntagmorgen die Spiegel-TV-Dokumentationen oder Samstagnacht MTV. Heute guckt man kein MTV mehr, was nicht zuletzt daran liegt das dass „M“ schon lange für alles nur nicht für „Musik“ steht. Aber darüber haben sich schon schlauere Menschen als ich aufgeregt. Was mir allerdings neulich spanisch vorkam, war die MTV-Werbung für den sendereigenen Teletext, ganz so als wäre das eine brandneue iPhone-App. „Alle Tourdaten, Deiner Lieblingsband, ab Text-Seite 800!“ Jetzt muss MTV nur noch rauskriegen wie man über Teletext die Konzertkarten direkt kaufen, dass Konzert bewerten, sich Samples der Lieblingsband anhören und mit anderen Fans chatten kann, schon ist das Internet wieder geschlagen.

Vor knapp 10 Jahren war ich deutlich öfter draußen. Also nicht nur vorm Fernseher. Glaub ich jedenfalls. Gehört ja auch zum Erwachsenwerden, ein Drinnenmensch werden. Genauso wie sich einen Decanter zulegen. Leider passt der, mit seinem bescheuert-breiten Auswülstungen in kein Ikea-Regal. Immer steht er ein Stück raus. Und erwachsener als Ikea ist man dann doch nicht. Aber erwachsener als StudiVZ, oder Facebook, oder Xing, oder Twitter oder: Nein. Jeder ist bei Facebook. Und jeder ist im Stress. Gerade in Berlin. Und gerade auch, wenn man so viele Jobs in den „Neuen Medien“ auf so viel mehr Leute verteilt. Und die Leute leben dann auch alle noch in der gleichen Stadt und dort oft auch in der gleichen Straße. Also wird die Aufmerksamkeit, die „soziale Netzwerke“ (irgh, diese Wort!) erfordern, ungeheuerlich. Man ist nur mit „checken“, verlinken und Status-updaten beschäftigt. Wer nicht teilnimmt, der existiert nicht. Und wer nicht existiert, der nutzt Berlin nicht. Irgendwann gibt es dann auch ein Fach „Social-Network-Science“, und … ach. Wahrscheinlich gibt es das schon längst. Wie lange hab ich schon nicht mehr ins KVV gesehen. Aber beenden wir die neo-mediale-pseudo-wissenschaftliche Beredsamkeit:

Erwachsenwerden, erwachsen sein und das seit nunmehr fast einem Jahrzehnt war das Thema. Nun: Ich reg mich nicht mehr so sehr über schlechte „Wetten dass …?“ – Sendungen auf. Die sind aber auch sehr viel besser geworden. Ja, wirklich.
Vor knapp zwei Wochen ist J.D. Salinger gestorben. Im „Fänger im Roggen“ wird nur sehr wenig über Thomas Gottschalk philosophiert. Aber über den Wunsch immer Kind zu bleiben. Ich wollte dagegen immer Erwachsener sein. Und das nicht erst, seit ich wusste das man dann in die Ab-18-Abteilung der Videothek darf. (Natürlich die Ab-18-Abteilung in der die Horrorfilme stehen, nicht die Pornos.)
Ich wollte erwachsen sein, weil meine Eltern und die Erwachsenen im Allgemeinen, alles so viel besser im Griff zu haben schienen. Es sah leicht aus, so leicht. So wie No-Look-Pässe bei LeBron James leicht aussehen.
Ähnlichen Erfolg wie mit den No-Look-Pässen hatte ich dann auch mit dem Erwachsensein. Es ist scheiße-schwer, ehrlich gesagt. Gerade in Berlin. Die Kultur die man sich eingerichtet hat und in die man gerne abtaucht, mit Kneipen, Kinos, WG-Partys und viel, viel, viel Ablenkung, machte das Kind-bleiben so unglaublich einfach. Dabei alterte man aber ganz von alleine. Jetzt hab’ ich schon graue Haare an den Schläfen. Echte graue Haare und Geheimratsecken. Nicht viele, aber sie stechen heraus wie Singles beim Tanzkurs. Die grauen Haare, meine ich, nicht die Geheimratsecken.

Ich mag Berlin. Ich mag es im Winter, auch mit Matsch und Knirschen, und ich mag es im Sommer, wenn ich mich über Flip-Flops aufregen kann. Ich mag die Stadt die jetzt meine Stadt ist, ohne das ich auch nur eine familiäre Bindung zu ihr hätte. Die Stadt ist mein Freund und als solcher drängt er mich nicht irgendwas zu erreichen, er ist einfach da. Das ist Berlin.
Endlich hab’ ich nun auch mein erstes Weihnachten hier verbracht, und bin nicht zu meinen Eltern (nach Hause) gefahren. Ein großer Schritt.
Ja, ich bin ein Zugezogener, aber ein Glücklicher und einer der auch Bezirke wie Charlottenburg oder Wilmersdorf schätzt. Ich würde da nie hinziehen, aber ich schätze die Bezirke. Ich mag Leute die da herkommen. Es sind eben ein paar Leute mehr, die Berlin so zur Metropole machen.

Und ich mag Berlin weil ich hier machen kann was ich liebe. In vielen Teilen des Landes wäre ich unbeschäftigt, bis uneinstellbar. Wer braucht schon einen wie mich. Berlin braucht mich nicht nur, hier darf ich sein. Ich bin eine rare Spezies, hier ist mein Habitat. Das ist vielleicht arrogant und eingebildet und vielleicht belüge ich mich selbst, aber mal ehrlich: Auch ein Kapitän würde niemals in die Berge ziehen.

Wachstum, Reife, Erwachsenwerden ist aber nicht nur sein, es ist werden. Es ist eine Sendung. Ganz so, als hätten einen die eigenen Eltern mit einer art Programmierung versehen: Irgendwann kommt die durch. Die Rebellen, die Selbstverwirklicher, euch meine ich: Irgendwann kommt die Programmierung durch, kommt die Elternerwartung auch bei euch an. Und es ist eine Elternerwartung, im Teekässelchen-Sinn des Wortes. Älter werden und Eltern werden. Jetzt ist es da, so wie der Frühling, aber noch hab’ ich Winterschuhe an. Ich wünsch mir für dieses Jahr ein bisschen Wachstum. Einen erwachseneren Umgang mit Berlin, einen erwachseneren Umgang von Berlin mit mir. Und das ist keine Metapher. Sei ein bisschen weniger Kumpel, Berlin. Ich brauch’ das jetzt. Danke Dir, bis bald.
Dein Floris.

Ein Gedanke zu „Fast Erwachsen seit fast zehn Jahren (in Berlin) [verfasst am 4. Februar]

  1. neugirly

    Es ist ganz einfach, das erwachsen – werden! Irgendwann hat man genug Zeit auf diesem großstädtischen Spielplatz verbracht und es wird langweilig dort. Man hat alle Gewächse betrachtet, alle Abfallhaufen untersucht, die Hunde kennt man mit Namen und die hysterischen Mütter an der Stimme. Alle Kekse sind aufgefuttert, alle Dosen leer gemacht und Muddi holt einen nicht mehr ab.
    Wer jetzt nicht vor Schreck total gelähmt ist, der ist erwachsen!

    wachsen – einer Sache entwachsen – über sich hinaus wachsen – in etwas hinein wachsen – mit etwas verwachsen – wach s(ei)n

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