Vor etwas mehr als hundert Jahren schrieb ein junger Franzose ein Buch über „Selbstmord“. Nicht wie man ihn begeht, sondern wer ihn begeht und unter welchen Voraussetzungen. Der Franzose unterschied verschiedene Selbstmordarten, wobei der egoistische Selbstmord die zentrale Rolle einnahm.
Egoistischer Selbstmord kann unterschiedliche Gründe haben. Finanzielle Probleme, psychische Leiden und so weiter und so weiter. Wichtig beim egoistischen Selbstmord: Man tut es für sich.
Der Franzose fand heraus: Es gibt gewisse Faktoren die den egoistischen Selbstmord begünstigen, also Umweltbedingungen unter denen Selbstmord statistisch häufiger auftritt als unter anderen Bedingungen. Eine Bedingung die eher gegen Selbstmord immunisiert, ist familiäre Eingebundenheit. Demnach begeht ein verheirateter Mann mit vier Kindern weniger selten Selbstmord, als ein gleichaltriger Single. Die Wahrscheinlichkeit Selbstmord zu begehen sinkt für den Single nur wenn er jünger wird. Warum? Weil jüngere Menschen im Durchschnitt seltener Selbstmord begehen. Ist doch klar.
Also: Umso älter man wird und Single ist, umso größer die Wahrscheinlichkeit für Selbstmord. Wobei man auch nicht zu alt sein darf. Dann nämlich setzt die Weisheit und Gelassenheit des Alters ein (auch wieder statistisch belegt) und man begeht wieder seltener Selbstmord.
Warum ich das alles hier aufschreibe?
Die Hartz-IV-Sätze sollen um nicht viel mehr als DER SPIEGEL kostet erhöht werden. Statistisch wird dies bedeuten, dass – einmal mehr von der Politik enttäuscht und hoch verschuldet – die Selbstmordrate in gewissen Teilen der Bevölkerung und somit auch im Durchschnitt steigt. Und in diesem Fall meine ich nicht nur den egoistischen Selbstmord, ich meine auch den altruistischen Selbstmord, also einen Selbstmord den man für andere, für die Gruppe selbstlos begeht. Zum Beispiel wenn man damit seine Familie entlasten kann. (Aufgemerkt alle Alten und Gebrechlichen die auf die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen sind: Man kann nie früh genug anfangen sich über einen netten, altruistischen Selbstmord Gedanken zu machen. Oder was ist mit Querschnittgelähmten die auf staatliche Hilfe und das knappe Geld ihrer Verwandten angewiesen sind? Einfach mal mit dem elektrischen Rollstuhl über den Rand einer Klippe steuern. Wenn keine Klippe zur Hand, dann tut es auch eine steile Treppe, am besten in Altbauhäuser mit hohen Decken, dann ist der Weg runter auf die Zwischenebene länger.)
Die neuen Hartz-IV-Sätze werden übrigens mittels Statistiken berechnet. (Statistische Mittelwerte, zum Beispiel. Wie der Durchschnittspreis für einen Liter Milch, der durchschnittliche Gebrauch dieses Mittel und die durchschnittliche Erfordernis im Haushalt eines Hartz-IV-Empfängers.)
Wie man (also jeder) anhand des Selbstmordbeispiels nachvollziehen kann, begeht nicht jeder Single zwischen Vierzig und Sechzig Selbstmord. Warum auch. Es gibt Beate Uhse, den Sky Erotikkanal und das Internet. Das heißt: Statistiken bedeuten für den Einzelnen gar nichts. Hartz-IV bedeutet für den Einzelnen alles. Hartz-IV, Steuern, der Bundeshaushalt, die Vergabe von Staatsgeldern, Löhne, so ungefähr alles in dieser Welt was mit Verteilung und Vergabe zutun hat, enthält in seiner Berechnung statistische Werte. Statistische Werte sind aber – der Definition nach – nur Annäherungen. Statistische Werte bedeuten eine Abbildung, niemals die Wirklichkeit. Statistische Werte sind nicht das Objekt vor dem Feuer, sondern sind die Schatten an der Wand. Sie sind flach, runtergebrochen und entbehren jeder Differenzierung. Statistische Werte werden übrigens auch von einem gewissen Ex-Bundesbänker oder bald Ex-Bundesbänker herangezogen. Statistische Werte werden als Tatsachen verkauft. Sie sind es nicht. Die Realität ist anders. Wüssten wir sie, wir bräuchten die statistischen Werte nicht. Aber wir kennen die Realität nicht. Das ist das Problem. Dabei ist ein Teil der Realität zum Beispiel, dass sich Menschen nun mal umbringen. Sie verlassen ihre Familien, manchmal auch wenn sie zwei Kinder und eine Frau haben. Manchmal gehen sie eben, aus freien Stücken, ohne finanzielle Probleme und ohne einen triftigen Grund. Aber was wissen wir schon über triftige Gründe. Wir sind nicht gegangen.
Die Studie des Franzosen, die er vor mehr als hundert Jahren anfertigte, sagt viel aus. Sie beschreibt ziemlich genau wie man wissenschaftlich, gesellschaftswissenschaftlich eine komplexe Erhebung durchführt und auswertet. Der Franzose hat damit den Vergleich als wissenschaftliche Methode eingeführt und salonfähig gemacht. Aber in allen Kategorien und allen Unterteilungen findet man am Ende einfach keine Antwort auf das Warum in der Realität. Weil es eben nur Statistiken sind. Die Beliebigkeit, mit der ein Familienvater am Leben bleibt und ein anderer Familienvater den Freitod sucht, diese Beliebigkeit lässt sich mit Statistik nicht erklären. Statistisch ist ein Zufall ausgeschlossen.
(Zum Thema Zufall und seinem Einfluss auf so ungefähr alles müsste man weit mehr als nur einen Nebensatz in einem schnöden Blog anführen. Ich will es hier mal dabei belassen.)
Der Franzose hieß übrigens Emil Durkheim, ein Mitbegründer der Soziologie. Ein Kollege von ihm war Max Weber. Max Weber hat viel über Bürokratie geschrieben, über den Staat und Ordnung. In einer seiner Schriften schreibt er, dass nach allen Vorgaben und allen Gesetzen, Pflichten und Regeln, der Bürokrat im Einzelfall immer auf seinen gesunden Menschenverstand im Umgang mit dem ihm gegenübersitzenden Bürger zurückgreifen soll. Max Weber sprach vom „wohl gesonnenen Bürokraten“, einem Beamten mit Fingerspitzengefühl.
Wow. Wenn es also so sehr auf Menschenverstand und Einfühlungsvermögen, schon bei einem auf Regeln und Kausalitäten versessenen Soziologen ankam, warum entscheiden dann Merkel und Westerwelle über Hartz-IV?