Paracetamol

Die erste Tablette schmeiß ich um kurz nach Acht ein. Die ersten eMails sind sechs Mal abgerufen, mir raucht der Kopf. Billige DVDs werden in acht Newslettern für 2,99 bei Amazon angeboten und ich mach mir nen Kopf darüber ob Zwölf Euro, nein: Elf, Neunundneunzig zuviel sind für einen Film, der schon auf VHS eher unterdurchschnittlich war. Aber die „Bildqualitätswertung“ ist „überdurchschnittlich“, also: What the hell.
Kann Tron 1 jemals „gestochen scharf“ sein? Der ist aus den Achtzigern.
Kurz nach Neun: In der Mediathek hab ich alle Talkshows der vergangenen Woche gesehen. Fazit: Nina Hagen nervt und diese bescheuerte Alte, die jetzt überall rumsitzt und davon erzählt, dass sie mit Siebzig ihren ersten Orgasmus hatte find ich so spannend wie das letzte Album der Fantastischen Vier. Hey, wenn man sich nicht mindestens einmal im Leben als Künstler neu erfinden will, dann bitte wenigstens wie Herbert Grönemeyer Soundtracks schreiben. So erspart man dem leidgeprüften Bundesbürger immerhin das Gejaule.
„Ich wollt’ noch Danke sagen, aber lieg im Krankenwagen?“ Dreijährige in logopädischer Behandlung reimen besser:
„Und als sie so vor mir stand,
so rot und mit Sonnenbrand:
Ihr Akzent war französisch, ihr Pass war es nicht,
Au-Pair ihre Aufgabe, Au-Pair ihre Pflicht.
Sie trug Rippunterhemden und Spange im Mund,
Mückenstiche entzündet, der rechte Arm schon ganz wund.
Für mich war sie wunderschön, dieses Bild einer Frau,
wie Liv Tyler oder Lena, oder ihr Lego-Nachbau.
Und wie ein Gast in Mareikes Mini-Lädchen,
war ich hin und weg für mein wunderbares … exorbitantes … fabelhaftes, osteuropäisches Kindermädchen.“
(Na gut, jetzt bin ich etwas zu weit abgekommen.)
Wo war ich? Ach ja. Die Siebzigjährige. Tut mir eher Leid für sie, aber eine Meldung sieht anders aus. Es ist kurz nach Zwölf: Die vierte Paracetamol. Wann hören diese Kopfschmerzen eigentlich mal auf?
Mit Siebzig das erste Mal Toast gegessen, über so was sollte man eine Kerner-Sendung machen. Ach was: Einen Marathon. „Toast. Wie die Kriegsverlierergeneration ihr Vertrauen in Weißbrot verlor.“ Wichtig ist „Kriegsverlierer“, wir hätten ja auch gewinnen können. In hundert Jahren heißt es bestimmt: Wer erinnert sich noch daran wer hier wen überfallen hat?
Meine Kopfschmerzen hören ja gar nicht mehr auf!
Vielleicht sind es die Strahlen von all den überfälligen Atomkraftwerken. Was war die Logik dahinter noch mal? Atomkraftwerke nicht abschalten, damit die Wirtschaft angekurbelt wird? Das ist ungefähr so logisch, wie weiter essen bis man erstickt um am Ende eine gute Basis für ein Wetttrinken zu haben. Übrigens: Die Uranvorkommen der Erde reichen noch zirka siebzehn Jahre. „Was? Das hat uns keiner gesagt!“ Klasse Strategie, Angie!
Die nächste Paracetamol nehme ich gegen die Migrationsdebatte. (Ha, hier bietet sich ein guter Name für mein nächstes Online-Game an: Migrationstablette. Welche Arznei hilft gegen dummes Geschwafel?) Oder doch lieber gegen Thilo? Hass auf Ausländer gehört so sehr zum guten Ton eines jeden demokratischen Landes, wie von Lobbyisten finanzierte Geschlechtsumwandlungen zur FDP gehören. Die jungen Migranten sind also aggressiv? Geh Du doch mal in ein fremdes Land und lass alle Inländer Dich von Oben herab angucken und jeden Polizisten so vollgestopft mit Vorurteilen sein, dass er Dich bei der kleinsten falschen Handbewegung wegsperrt und dann sieh Dir die Sträflingsstatistiken in diesem Land an: Klar, bist Du da an erster Stelle. Dann bist Du der gewaltbereite Ausländer, immerhin hast Du Dich bei der Verhaftung gewehrt, wusstest Du doch nicht warum man Dich aufgreift. Wer würde sich nicht wehren?
Was? Aber die jungen Türken in Deutschland wissen doch genau – – -? Was wissen die? Die wissen dass ihnen sowieso niemand traut. Die wissen dass die Chancen für Deutschlands Jugend steigt, aber nur die blonde Jugend.
Aber die Statistiken! Aber was? Mit irgendwelchen Statistiken begründeter Fremdenhass bleibt immer noch Fremdenhass. Und wenn ein Volk, dass tagtäglich von den Nachrichten eingebläut bekommt dass es ja immer nur bergab geht und jeder sehen muss wo er bleibt, wenn dieses Volk eines kann, dann ist es alle nicht Völkischen zu hassen. (Merkt man wie ich das vorbelastete Wort „Völkisch“ hier einflechte? Dabei hat das rein gar keine echte negative Bedeutung. Die ganze Welt ist „völkisch“ …tz!)
Wäre es in Deutschland gestattet Araber auf der Straße tot zu prügeln, ich müsste mit einer Schneeschaufel die blutigen Leichen vor der Tür wegschieben um zu Netto zu kommen.
Puh! Die nächste Paracetamol.
Diesmal für abgehalfterten Retro-Pop-Chic von „The Hurts“ oder nur „Hurts“, keine Ahnung. Sind die „The“-Bands schon wieder out? Vielleicht sollte man in Zeiten von Google und den intelligenten Ergänzungen („meinten Sie „The Hurts“?“) vielleicht ganz auf Präpositionen verzichten. Da lobe ich mir Arcade Fire. Hätte ja auch „The“ Arcade Fire heißen können. Tut es nicht. Track 10 wirkt wie eine Kopfschmerztablette. Alles ist vergessen, alles wird taub. Für einen Moment ist Ruhe.
Wie hieß noch mal dieser Film für dessen Trailer ein Arcade Fire-Hit herhalten musste. Der Film von diesem „wahnsinnig kultigen“ Regisseur, der sich „unglaublich“ viele „unwahrscheinlich“ tiefsinnige Gedanken zu einem echt „megamäßig“ bedeutenden Kinderbuch gemacht hat, von dessen Film aber nach der Veröffentlichung keine Sau mehr gesprochen hat? Das ist der Hype. Die Welle bricht am Scheitelpunkt. Begraben wird alles und jeder.
Wo die wilden Kerle wohnen möchte ich auch mal hin.
Jetzt fangen die Kopfschmerzen wieder an. Es ist kurz nach halb Vier. Zeit für eine letzte Tablette. Was mich aufregt ist die Debatte über Reduzierung der Neuverschuldung.
Die, die Ausländer hassen und am liebsten wieder jeden Tag die rot-weißen Fahnen mit den lustigen vier schwarzen, zusammengebundenen Füßchen in der Mitte raushängen würde (ja, ich meine die Bild-Zeitung) fragen: Warum denn überhaupt Neuverschuldung? Dann doch lieber soziale Leistungen abbauen bis man überhaupt keine Steuern mehr zahlen muss.
Ich würde fragen: Wenn man sich für das geliehene Geld endlich mal den „WISO-Steuersparer auf DVD“ kauft, warum nicht?
Eine Überdosis Paracetamol kann zum Tod führen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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