Aufblende im Büro des Programmchefs eines großen amerikanischen Kabelsenders.
Der Mann hinter dem Schreibtisch trägt italienische Maßarbeit und einen kleinen Bauch. Die Sprechanlage summt und man hört die Stimme seiner Sekretärin:
„Ihr Zwei-Uhr-Termin ist da.“
„Schicken Sie ihn rein.“
Es dauert keine Minute da stehen ein ständig nickender Produzent, ein aufgeregter Jungregisseur und der Autor im Büro. Ihnen werden Plätze zugewiesen und man setzt sich. Der Programmchef sieht die Drei an und setzt dann seine übliche „ich kaufe nichts“-Miene auf.
„Gut. Also, meine Herren, was haben sie für mich?“
„Den nächsten Hit für Ihre Primetime.“, platzt es aus dem Jungregisseur heraus und zum vierten Mal in zehn Sekunden rutscht er auf seinem Stuhl von einer auf die andere Seite. Bei dem Versuch den Kopf auf dem Arm auf zu stützen, verpasst er die Stuhllehne.
„Aha.“ Der Programmchef sieht den Produzenten an, der um den Pitch gebeten hat.
„Es sieht folgendermaßen aus“, beginnt der Produzent. „Alle Sender kämpfen momentan mit aufwendigen Science-Fiction-Serien, Action oder Krimi in der Primetime um die Zuschauer. Sie aber nicht und Sie verlieren.“
„Tun wir das?“
„Ja. Aber wir haben die Lösung.“
„Familie Armageddon.“
Der Programmchef sieht den Autoren mit halboffenem Mund an. Der Autor greift sich kurz an die Brille, Schweiß läuft unter seiner ungekämmten Frisur hervor, über die gefaltete Stirn bis in die buschigen Augenbrauen. Der Programmchef fragt sich kurz, warum er nicht mal an normale Leute geraten kann oder sich wenigstens die landläufige Meinung von Autoren ändern würde.
„Familie Armageddon?“, wiederholt er mit einem deutlichen Fragezeichen am Ende.
„Ja. Genau. Ihr bestes Marktsegment sind Familienprogramme. Bei Action oder Science-Fiction treten sie gar nicht an, deswegen verlieren sie. Wir holen mit unserer Serie die Apokalypse, Action und Science-Fiction in das Spielzimmer einer Familienserie.“
„Aha.“
„Genau“, ergänzt der Autor. „Familie Armageddon ist DIE Science-Fiction-Action-Crime-Drama-Serie des Jahres. Es ist alles drin: Action, Spannung …“
„Lassen Sie mich raten: Science-Fiction und Apokalyptische-Szenarien?“
„Und der Look wird alle umhauen.“ Der Jungregisseur schürzt die Lippen und nickt dazu, als wollte er Vertrauen herbeiwinken, tatsächlich sieht es wie die zu oft ausgeführte Geste eines Wackeldackels aus.
„Aber es gibt schon alle Weltuntergangsszenarien … als große Blockbusterfilme, mit riesigen Effekten. Da mitzuhalten wird unglaublich teuer.“
„Deswegen haben wir uns etwas ausgedacht.“ Der Produzent reibt symbolisch die Hände. Es sieht weniger vertrauenserweckend als mehr linkisch und unseriös aus.
„Ich. Ich habe mir da etwas ausgedacht.“
Der Autor beugt sich nach Vorne und ein Schweißtropfen fällt auf den polierten Holztisch des Programmchefs. Er kann sich sekundenlang nicht vom Anblick des kreisrunden Körpersekrets lösen. Ertappt lehnt sich der Autor wieder zurück:
„Alles spielt in einem Haus.“
Der Programmchef sieht den Autoren fragend an:
„In einem Haus? Die ganze Serie?“
„Ja. Da wir eine Weltuntergangs-Familienserie machen, spielt alles im Haus der Handersons.“, sagt der Produzent und der Jungregisseur ergänzt: „So heißt die Familie.“
Der Programmchef weiß nicht was er sagen soll, aber der Autor:
„Es ist eine fünfköpfige Familie. Typisch amerikanisch. Vater, Mutter, eine ältere Tochter, ein pubertierender Sohn und eine süße Kleine. Alles dabei. Sie leben in einem Haus im ländlichen Iowa.“
„Iowa?“ Der Programmchef runzelt die Stirn.
„Was die Gegend betrifft sind wir flexibel.“, sagt der Produzent. „Macht sowieso nichts, da alles im Haus spielt, brauchen wir keine Außenaufnahmen, wir drehen im Studio.“
„Ja.“, erzählt der Autor weiter. „Jede Woche wird der Planet von einer neuen Katastrophe heimgesucht. In der Pilotfolge ist es die Schweinegrippe.“
„Schweinegrippe?“ Der Programmchef sieht den Produzenten an. Der Produzent grinst breit.
„Gut, oder? Ganz aktuell. Eine globale Pandemie! Unglaublich. Die Leute scheißen sich in die Hose und wir haben die Serie dazu … mit Familienelementen, natürlich.“
„Natürlich!“, springt der Autor wieder mit ein. „Neben den Seuchen, den verschiedenen Weltuntergangsszenarien, haben wir auch die üblichen Familienprobleme: Die Eltern streiten sich, Kinder machen nicht ihre Hausaufgaben, Erwachsenwerden, Verantwortung … die älteste Tochter hat ihren ersten Freund. Solche Sachen.“
„Und währenddessen tobt draußen, vor der Tür der …?“
„Vor der Tür der Handersons.“, wirft der Jungregisseur ein.
„Handersons, danke … tobt vor der Tür der Handersons die Schweinegrippe? Wie soll das erzählt werden? In Nebensätzen?“
„Nein. Viel besser!“ Der Produzent strahlt übers ganze Gesicht. „Übers Radio!“
„Radio?“ Dem Programmchef fällt auf, dass er sehr häufig einfach das letzte Wort seines Vorredners mit einem Fragezeichen danach wiederholt. Er fragt sich kurz ob ihn deswegen seine Frau verlassen hat.
„Genau. Übers Radio. Weil Insert-Fernsehsequenzen teuer und aufwendig sind, haben wir die perfekte Lösung gefunden: Alle Informationen … Tote, Ereignisse aus der ganzen Welt … Maßnahmen, die die Familie zum Überleben ergreifen muss … alles wird über das Radio vermittelt. Und damit es erklärt wird, warum immer nur ein Sender läuft: Es ist ein altes Radio und es ist defekt und auf einer Frequenz eingerastet!“
„Toll.“ Der Programmchef verpasst die richtige Intonation für Ironie.
„Nicht wahr?“ Der Autor strahlt zufrieden. „Und wir haben nicht nur Seuchen … es wird Vulkanausbrüche, Meteoritenregen, Flut … und am Ende der ersten Staffel, zum Cliffhanger … auch Zombies geben!“
„Zombies? Und die belagern dann das Haus?“
„Ja. Belagern, aber kommen nicht rein. Wir wollen das Geld für die Maske sparen, deswegen lassen wir ein paar Praktikanten einfach in den Belagerungsszenen Grunzen und schauerliche Geräusche machen und an den Türen und Fenstern kratzen.“
Der Produzent scheint sich seiner Sache sicher.
„Familie Armageddon, sagten Sie, soll das Format heißen?“
Die Drei gegenüber vom Programmchef nicken geschlossen. Er greift zum Telefon.
„Lassen Sie mich gleich bei unserer Buchhaltung anrufen und Ihnen einen Scheck ausstellen … damit die Vorproduktion beginnen kann.“
„Wirklich!?“ Autor und Produzent springen begeistert auf.
„Nein. Nicht wirklich. Sind Sie bescheuert?“
Der Programmchef steht langsam auf und funkelt seine drei Besucher wütend an.
„Wir sind ein ausgewiesener Familiensender. Wir lassen keine hirnverbrannte Apocalypse-Serie laufen. Und jetzt raus!“
Mit hängenden Schultern und sich kleinlaut über die Borniertheit und den fehlenden Wagemut beschwerend, verlassen Produzent, Autor und Jungregisseur das Büro des Programmchefs. Als sie weg sind lässt er sich zurück in seinen Bürostuhl fallen. Er schüttelt den Kopf, dann greift er nach seinem Blackberry und sucht die Nummer eines Bekannten bei FOX … ihm ist gerade die Idee für eine billige Science-Fiction-Action-Weltuntergangs-Drama und Familienserie gekommen. Vielleicht lässt sich da was machen!
Kommst Du zu meiner virtuellen Beerdigung?
Moment mal! Wir haben „zweitausend Jahre Varusschlacht“ und keiner hat was gesagt?
Ich hätte mir nen Anzug angezogen oder wenigstens das Hemd gebügelt.
Ach … Erst im Herbst? Gut, kann ich noch was aufholen.
Mal sehen: Angeblich hat damals … im Herbst 9 nach Christus … also dieser Arminius (den wir heute der Einfachheit halber Hermann nennen) ein Achtel des römischen Heeres vernichtet. Ein Achtel. Klingt erstmal nicht viel.
Aber wer schon mal versucht hat sich mit einem Achtel des A-Teams anzulegen (was ungefähr zwei Goldketten und die Faust von Mr.T ist), der weiß es besser.
In diesem Fall waren es 20 tausend Mann. Okay, es waren Römer, aber immerhin …
Hermann versteckt sich also, mit einer unbekannten Anzahl von Germanen (die damals zusammengewürfelt aus einer Vielzahl von wirklich beschissen klingenden Stämmen wie Marser und Chauken kamen), irgendwo im Gebirge. Varus – ein römischer Stadthalter, der nach Germanien geschickt worden war um es zu befrieden und Steuern zu erheben (was so dumm ist wie es klingt: War ja klar das sich da jemand wehrt!) – war auf dem Weg zurück aus dem Norden ins Winterlager. Irgendein Idiot erzählt Varus also, dass es Aufstände in einer relativ unbekannten Region Germaniens gibt. Varus nimmt – römisch überheblich – einen Umweg und Baam! (Der Idiot hat sich bestimmt nicht nach Rom getraut!)
Die gut durchmischten Germanen, vom Aussehen wohl irgendwo zwischen Kelly Family und Wildecker Herzbuben, stürzen sich auf die ungelenken Römer, die vorher mit „Weg frei räumen“ und „Bäume fällen um weiterzukommen“ beschäftigt waren. Man kreist den gemeinen Legionär in kleinen Gruppen ein und nimmt Männer und Pferde gepflegt auseinander. Varus, die feige Nuss, nahm sich, bevor man ihn gefangen nehmen konnte schön das Leben und als Kaiser Augustus später Varus Kopf präsentiert bekam rief er:
„Varus, Varus! Gib mir meine Legionen wieder!“
Was für mich persönlich zum geflügelten Wort wurde, weil es ein alter Geschichtslehrer von mir in geradezu inbrünstiger Art immer wieder und wieder ausrief (selbst als wir im Unterricht längst bei Hitler waren).
Was ich mich bei allen Berichten über die Varusniederlage oder Hermannschlacht (wie man sie in Detmold nennt, wo man gleich übereifrig das Hermannsdenkmal aufgestellt hat) irritiert, ist: Eigentlich weiß niemand einen Scheiß was damals passiert ist.
Fakt ist: Keiner der Typen (Ovid, Tacitus, Cassius Dio und wie die alle hießen) die drüber geschrieben haben war dabei.
Fakt ist auch: Keiner weiß genau wo die Bambule wirklich abging. Einige sagen in Detmold und im östlichen Teutoburger Wald (was der echt beschissenste Ort für ne Keilerei ist, ich meine: Verklicker mal deiner Truppe am Wochenende beim Grillen: „Hey, ich hab’ im Herbst bei Detmold den Römern eins auf die Nuss gegeben und dafür gesorgt, dass die langfristig ihre Bemühungen nördlich des Rheins Fuß zu fassen aufgeben.“ Klingt doch nach gar nichts!), andere sagen südlich vom Teutoburger Wald, bei Beckum (was nicht viel besser als Detmold klingt) und wieder andere meinen das sich alles bei Kalkriese abspielte (was der wenig belebten Gegend bei Osnabrück ein bisschen zu viel Ehre zuteil werden lässt, wenn man mich fragt).
Das heißt also: Im Grund hat vor zweitausend Jahren ein Deutscher nem Italiener und seiner 20tausend Mann Bande irgendwo mit was-weiß-ich-wievielen Kumpels richtig eins reingewürgt.
Und da es damals noch kein Twitter gab, gibt es auch keinerlei Berichte aus erster Hand und wie es wirklich abging, was die Jungs so genau trieben oder wo sie dabei eigentlich rumhingen.
Apropos Twitter:
Der Trend geht ja nun eindeutig in die Richtung sich überhaupt nicht mehr persönlich zu treffen, trotzdem aber alle Welt über jeden Scheiß auf dem Laufenden zu halten.
Bald schon heiraten wir bestimmt virtuell … ach: Dat gibt’s schon?
Na dann … dann will ich wenigstens virtuell zur letzten Ruhe gebettet werden. Mit Gästebuch und dem Button „Would you like to share this Funeral on Facebook?“. Ich will dass meine “Freunde” sich meine Beerdigung auf ihrer MySpace-Seite “embedden” können und einen Livestream aus dem Sarg will ich auch. Ich will ein Voting zum Thema „Einäschern oder Vergraben“ und anschließend „Urne oder Asche auf dem Meer verstreuen / ins All schicken“. Ich will Werbebanner auf meiner MyFuneral-Seite für das neue Miley Cyrus-Album und ich will ein Haufen Weiterleitungen unter dem Titel „Wenn sie diese Beerdigung mochten, mögen sie vielleicht auch die folgenden Beerdigungen:“
Und ganz Unten, ganz weit Unten auf der Seite. In dem winzigen Text den jede Webseite mittlerweile hat und der die meisten Anbieter von der Haftung für ihren abscheulichen Inhalt ausschließt, irgendwo in diesem winzigen Text steht der Name Joe Blitz. Und man kann auf den Namen klicken und wenn man das tut, dann öffnet sich ein neues Fenster und das neue Fenster ist absolut leer. Und man muss wieder ganz weit nach Unten scrollen um überhaupt was zu sehen. Und da steht dann:
„Joe Blitz ist L. Ron Hubbard.
Ein unterdurchschnittlicher Science-Fiction-Autor, der es tatsächlich geschafft hat eine eigene Religion zu gründen, die heute größer ist als jemals zuvor. (Und das mit dem Vornamen Lafayette!) Eine eigene Religion, die nicht weniger Religion wird, nur weil wir sie Sekte nennen. Eine Religion, verdammte Scheiße! Von einem Science-Fiction-Autor! Wer hat wohl die Bibel geschrieben?“
Und unter diesem Text ist ein winziger Button und darauf steht:
„Computer runterfahren, dann aufstehen, mal wieder rausgehen und nen klaren Kopf bekommen, weil diese Welt das echt nötig hat!“
Und ich wette: Wer diesen Button, diesen Knopf dann drückt, der textet im Rausgehen seinen Kumpels via Twitter:
„Hab’ diesen Knopf auf ner Funeral-Page gefunden. OMG Muss meinen Computer neu starten. Geh’ mal eben raus und seh’ nach ob jemand da ist.“
Zwei Minuten später folgt dann:
„War draußen. War ganz alleine. LOL Keiner hat’s gehört!“
Als ich selbst in meiner Nähe stand
Im Finale von Worlds Next Messiah stehen ein ziemlich dicker Dauergrinser, ein Mann mit langem Spitzbart und ein Junge aus dem Westjordanland.
Der Moderator ist, wie könnte es anders sein, Johannes B. Kerner.
„Buddha?“, fragt Kerner grinsend und wird dann von Gastjuror Lothar Matthäus mit der Frage „Budda? Kommt da eigentlich „Budda bei die Fische“ her?“ unterbrochen. Keine Antwort. Eisiges Schweigen.
„Wo ich stehen geblieben war“, führt Kerner fort. „Buddha, bei ihrem letzten Projekt haben Sie als Berater für Quentin Tarantino gearbeitet. Der Film heißt ‚This fuckin’ Reincarnation’ und handelt von einem Buddhisten, der den ewigen Kreislauf der Wiedergeburt leid ist. Deswegen begibt er sich auf einen Amoklauf von biblischen Ausmaßen, nur um am Ende als die schlimmste aller Formen wiedergeboren zu werden: Nichts … und so den Kreislauf der Wiedergeburt endlich durchbricht.“
„Entschuldigung.“, mischt sich ein weiterer Gastjuror ein. „Entschuldigung. Aber ich glaube, wir haben das Patent auf das Wort „biblisch“. Vielleicht benutzen sie doch einen unreligiöseren Superlativ. Danke.“
Nachdem Kerner sich galant und professionell entschuldigt hat, setzt sich der empörte Ratzinger wieder. Die Aufmerksamkeit liegt bei Buddha.
„Nein.“
„Wie: Nein?“ Nun will es Kerner genauer wissen.
„Nein. Ich habe mich geweigert mit Tarantino zusammen zu arbeiten.“
„Aha. Warum?“
„Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin ein großer Fan. Wie Uma Thurman in Kill Bill 1 kurz zwinkert und die Kampfsequenz wird Schwarz-Weiß … großartig. Aber ich habe ein eigenes Skript für einen Buddhismus-Film eingereicht und Tarantino hat es abgelehnt. So hat sich eine weitere Zusammenarbeit für mich erledigt. Er hat sich dann diesen vierarmigen Kerl aus dem Hinduismus geholt. Meinte: Das wirkt sowieso besser vor der Kamera. Vollkommener Schwachsinn. Vier Arme. Wie sieht’n das aus?“
„Hm.“
Kerner wendet sich an den Mann mit langem Spitzbart:
„Ihnen wurde auch mal eine Filmrolle angeboten, oder?“
„Ja. Ich sollte Harrison Fords Vater in Indiana Jones 4 spielen, nachdem Sean Connery abgesagt hatte.“
„Warum haben Sie’s nicht gemacht?“
„Ehrlich gesagt: Damals fand’ ich das ziemlich anmaßend. Ein Sohn armer Eltern aus Mekka soll den Platz des vielleicht größten, schottischen Schauspielers einnehmen … uh, nein. Viel zu viel Verantwortung. Im Nachhinein allerdings: Ich bin froh das ich nicht dabei war.“
„Aha. Warum?“
Während Kerner weiter fragt, beginnt Gastjuror Ricky Martin (selbsterklärter Retter des Latino-Pop) gelangweilt die Os, Ds und Qs auf seinem Fragebogen auszumalen: In Rosa.
„Warum, warum, warum?“, entgegnet der Mann mit dem langen Spitzbart genervt. „Weil der Film Grütze war. Absoluter Scheiß. Das hätte meine Karriere ruinieren können. Und dann dieses Auflösung am Ende: Außerirdische. Ist doch vollkommener Blödsinn.“
„In der letzten Mottoshow, Thema: Auferstehung, kurz vor dem Finale, ist Kebal Kutur ausgeschieden. Er sagt von sich, der außerirdische Erlöser einer irdischen Sekte zu sein.“
„Und? Hat ihm irgendjemand geglaubt?“
Langsam wird der Mann mit dem langen Spitzbart wirklich sauer.
„Das ist doch immer so. Egal wohin ich komme. Überall gibt es diese Spinner, die Paradiesvögel, die glauben sie können einem längst vergangenen Hype hinterherlaufen. Und dann sagen sie, sie sind Außerirdische oder stechen sich ein Auge aus und wollen als Zyklopen durchgehen. Aber sobald es ‚tough’ wird … ich meine: Richtig ernst! Sobald sie mal echt ein Wunder vollbringen sollen, so wie Auferstehung. Hey: Ihr habt den Typen gesehen. Wie der rumgekrebst hat, alleine dabei wie er am Ende den Stein vor der Höhle wegschieben sollte. Amateur. Ich dagegen, und dabei ist Auferstehung echt nicht meine Disziplin, hab’ die Zähne zusammen gebissen und hab’s durchgestanden. So sind wir Muslimen.“
„Okay.“ Kerner scheint beeindruckt.
„Das heißt: Sie denken der Richtige für die weltweite Erlösung zu sein?“
„Klar. Hundert Pro. Und diese Propaganda, vonwegen ich hätte was gegen andere Religionen. Vollkommen übertrieben. Sowas hab’ ich nie gesagt, oder gemeint. Was ich meinte war: Für irgendwas muss man sich entscheiden, warum also nicht für den Islam. Okay, wir haben Fehler. Gebe ich gerne zu. Aber guck Dir mal die Juden an…“
„Bitte?“, meldet sich Gastjurorin Hannah Arendt.
„Nein. Nicht Sie. Ich meine Friedmann und die ganzen Knallchargen.“
„Okay, okay.“, unterbricht Kerner. Gastjurorin Arendt schüttelt derweil mit böser Miene den Kopf.
„Du bist doch auch Jude.“, spricht Kerner den Jungen aus dem Westjordanland an.
„Wenn man Dich fragen würde: Würdest Du erneut das Leid der ganzen Welt auf Dich nehmen?“
„Ich?“, fragt der Junge aus dem Westjordanland unsicher nach.
Kerner nickt.
„Nein. Wieso denn?“
Kurzes Erstaunen bei der Jury. Ein Raunen geht durchs Publikum.
„Aber … aber“, beginnt Juror Ben Becker. „In Deiner Vita heißt es … „und er nahm die Sünden der gesamten Menschheit auf sich.“ oder wie ist das zu verstehen? Bildlich?“
„Nein. Auch nicht bildlich. War einfach nicht so. Alles Folklore.“
Der Junge aus dem Westjordanland scheint nicht erstaunt, dafür springt Gastjuror Dan Brown auf:
„Ha! Das hab’ ich immer gesagt!“
Unruhe bricht unter den Jurymitgliedern und auch im Publikum aus. Kerner hat einige Mühe alles wieder unter Kontrolle zu bringen.
„Gut, gut, gut. Lassen wir das mal mit der gesamten Menschheit weg … wie viele Leute wärst Du bereit zu retten und in eine bessere Zukunft zu führen, so als Worlds Next Messiah? Eine Million? Zwei?“
Kerner fixiert den Jungen aus dem Westjordanland, aber der beißt sich nur kurz auf die Unterlippe und antwortet dann achselzuckend.
„Hm … keine Ahnung. Nicht so viele. Vielleicht zwei Menschen, maximal drei. Vier … wenn’s hoch kommt.“
Unverständnis und fragende Blicke. Der junge aus dem Westjordanland zupft sein ausgewaschenes Offspring-T-Shirt zu Recht und versucht gerade auf seinem Kandidatenhocker zu sitzen. Dann räuspert er sich:
„Um mehr geht’s doch gar nicht. Wer versucht die ganze Welt zu retten, hat definitiv einen Gottkomplex.“
„Garnicht!“, brüllt der Mann mit dem Spitzbart und der Dauergrinsen hört mit dem Grinsen auf.
„Wie Du meinst.“, lächelt der Junge aus dem Westjordanland.
„Aber Fakt ist: Ich kann nicht alle retten. Nicht mal die, die ertrinken … wenn ich nicht schwimmen kann. Mal als Gleichnis gesprochen.“
„Toll. Und das von jemandem der übers Wasser läuft.“
Buddha grinst wieder, und bekommt Unterstützung vom Dalai Lama. Aber der Junge aus dem Westjordanland lässt sich nicht verunsichern.
„Fakt ist auch: Ich kann nicht mal alle lieben.
Als ich damals mit meinen Jungs durch Galiläa gelaufen bin, haben wir versucht niemanden auszulassen. Wirklich niemanden. Hin und her sind wir gerannt. Wenn ich das heute machen würde, ich würde von einem Baumarkt in Mecklenburg-Vorpommern bis zum kleinsten Shoppingcenter im Wartburgkreis wandern. Aber es würde nichts bringen. Du kannst nicht jeden erreichen und Du kannst auch nicht alle lieben.
Ich erinnere mich an eine Situation, da hat uns so ein bescheuerter, römischer Viehhändler fast von der Straße nach Kana abgedrängt. Da waren wir echte alle auf 180. Lukas wollte ihm schon hinterher und so richtig die Fresse polieren, Markus hat ihm den Mittelfinger geziegt, selbst mir kam ein ‚Fuck you, Römer!’ über die Lippen. War kein schöner Anblick …
Aber egal.
Im Endeffekt ist es auch nicht meine Aufgabe alle zu lieben. Ich hab’ da zuerst meinen Arbeitsauftrag schon so verstanden und oft wird das auch so wiedergegeben. Aber so war das garnicht. Es ist halt nicht einfach der Sohn vom Chef zu sein. Aber es liegt alles viel näher. Zuneigung. Ein paar Menschen ganz nah ran lassen. Das war gemeint. Erlösung durch den direkt Nächsten. So geht das.“
„Sie meinen: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst?“, fragt Kerner nach und schlägt dann ein bekanntes Fantasy-Buch wieder zu.
„Nein. Wo haben Sie’n das her? Wie soll ich denn jeden Nächsten lieben wie mich selbst? Okay: Erstmal muss ich mich selbst lieben. Schon mal nicht schlecht. Aber was ist mit den Ackermännern dieser Welt? Zuviel Selbstliebe ist auch nicht gesund. Also weniger von Beidem. Weniger Selbstliebe und weniger Nächste. Sich einfach mal auf die wirklich wichtigen Personen einlassen. Eine Frau finden, oder einen Mann. Ich bin da echt nicht der, der irgendjemandem was vorschreiben will. Ich war mit zwölf Typen für ne wirklich lange Zeit unterwegs und nicht jeder der Typen hatte sich sexuell schon entschieden. Da lief ne Menge ab. Egal … worauf es ankommt: Jemanden finden. Ihn lieben und genauso mit sich selbst verfahren. Liebe Dich selbst, wie Du Deinen Nächsten liebst. Aber nur den Einen … oder zwei. Nen guten Kumpel vielleicht noch, die Eltern … wobei man da aufpassen muss. Ich selber komm’ aus ner Patchworkfamilie … aufgezogen von nem Typen der nicht mein leiblicher Vater war, aber dauernd mit irgendwelchen Leuten konfrontiert, die durch mich an meinen leiblichen Vater rankommen wollten … war nicht einfach. Mein leiblicher Vater … ziemlich strenger Typ. Hat was echt Angsteinflößendes. Aber mein Ziehvater war cool. Hat viel mit Holz gemacht. Laubsägearbeiten, da kriegt man als Kind was Kreatives mit auf den Weg. Ich hab’ ihn geliebt. Genauso wie ich meine Freundin liebe und unsere Kinder. Aber eben nur diese Auswahl. Mein Best-of. Und so wie ich die liebe, so liebe ich mich. Also nicht die Ich-Perspektive wählen, mehr auf Andere eingehen. Und nicht auf alle. Das geht doch total in die Hose: Wenn ich mich so sehr lieben würde, wie ich die Tante beim Burgeramt liebe, die mir schon wieder das Wohngeld gestrichen hat, dann würde ich vor lauter Selbsthass das Haus nicht mehr verlassen. Kann doch garnicht gehen.“
Die Jury sieht sich an. Es kommt zu keiner Diskussion. Der Junge aus dem Westjordanland fliegt raus.
Dick in a Box – Sequel
Ordinary fuckin‘ people
Chartgestöber
Auf Platz Fünf der meist verkauften Sachbücher in Deutschland steht diese Woche Sonya Kraus mit „Baustelle Body“ Untertitel: „Sonya’s Secrets“. Ehrlich gesagt: An dieser Stelle fallen mir so viele Seitenhiebe ein, ich bin geradezu genötigt nichts zu schreiben. Nur soviel: Auf Platz Neun steht der Rechtschreibduden.
Auf Platz Drei der Bundesliga steht, seit diesem Samstag, Bayern München. Mit hängenden Gesichtern und Schultern und was weiß ich noch allem, haben Rummenigge, Hoeneß und der Rest des ewig grantig wirkenden Bayern-Vorstands auch gleich Klinsmann entlassen. Ich will das ja nicht auf die Vereinsführung schieben, und Gott weiß: Ich kann den FC Bayern nicht ausstehen, aber denken diese dauerhaft schmollenden War-einmal-Fußballlegenden wirklich das Jupp Heynckes in fünf Spielen irgendwas ändern kann? Vor der Saison sagte man noch: Die Ziele gehen über die Spielzeit 08/98 hinaus. Was ist passiert? Hat die Fußreflexzonenmassage, die Luca Toni nun jeden Morgen kriegt, kein Vertrauen mehr erzeugt? Ich meine: Gegen Barcelona habt ihr doch nur ganz knapp – – – Ach, nee: Ziemlich deutlich verloren. Und immerhin: Ihr verliert vielleicht gegen Barcelona, Schalke und Wolfsburg, aber gegen Frankfurt, Bielefeld, Karlsruhe, Bochum und Hannover habt ihr gewonnen. Das ist doch schon mal was. Teilweise sogar mit mehr als mit einem Tor … außer gegen Bielefeld und Karlsruhe. Also: Kopf hoch. Vergesst eure Depressionen, sagt ja zum Leben und zum UEFA-Cup … (so nebenbei: Hat schon mal jemand Uli Hoeneß lachen gesehen? Und wenn: War es so ein echtes lachen, so eins wie sein Bruder hat … oder eher so eine Art Gesichtsentgleisung … anders kann ich mir das nämlich nicht vorstellen.).
Auf Platz Eins der meistgesehenen Kinofilme in Deutschland steht in dieser Woche Crank 2. Was super ist: Bedenkt man, dass sich über 300tausend Deutsche eine geisteskranke Klamotte angesehen haben, die aussieht als wäre sie für lau gedreht worden, dabei aber 20 Millionen Dollar gekostet hat. Eine Summe, die der Film (Gott sei Dank – sehr viele Gott-Verweise in diesem Eintrag, oder?) noch nicht eingespielt hat. Was bedeutet: Nach dem erfolgreichen ersten Teil (12 Mio. Budget – mehr als 44 Mio. weltweit eingespielt) wird es keinen dritten Teil geben. Puh!
Eine Frage bleibt: Crank 2 hat in Deutschland keine Jugendfreigabe bekommen, was heißt: Er ist für Jugendliche unter 18 nicht zu sehen. Trotzdem führt er die Spitze der Kinocharts in seiner ersten Woche an. Hm? … Die ausgewiesene Zielgruppe für Crank, mit seinem eingängigen (und zusehens nervigen) Klingelton, dem Handygame, den Wallpapers und was nicht noch alles, ist die übliche Gruppe von 14 bis 49: Ich hab’ aber keinen 49-Jährigen mit nem Crank-Wallpaper auf seinem iPhone gesehen oder wie er sich auf Facebook als „Freund“ von Crank-Star Chev Chelios verlinkt.
Vielleicht sind es nicht nur Killerspiele, die man dieser Tage härter ins Gericht nehmen sollte. Die Werbung über Internet, Handy und Fernsehen wird selten von einem neuen Teil der „Wolfenstein“-Saga so eingespannt, wie sie es für neue Filme wird. Und obwohl ihre moralische Unzulänglichkeit – wie im Fall von Crank 2 – mit einer Wertung eingestuft wird, werden die Filme beworben wie Hölle. Zigarettenwerbung ist aus dem Fernsehalltag verschwunden, nach Bierwerbung folgen „Don’t drink and drive“-Hinweise … ich hab’ nichts gegen Filme ab 18. Himmel! Die meisten Filme, die ich mag sind ab 18 oder gehören in ihrer FSK-Einstufung unbedingt heraufgesetzt, und – – – Oh! Okay: Ich weiß wie sich das anhört … Nein! Ich spreche jetzt nicht von Pornos! Jedenfalls nicht hauptsächlich … zurück zum Punkt: Es ist die Fokussierung, die mich rasend macht. Passiert eine Schießerei, gehen alle auf die Computerspiele los. Dabei gibt es hier deutlich Fortschritte:
Auf Platz Eins der Spieler-Hitliste für Computerspiele stehen „Die Sims 3“, obwohl das Spiel erst am 4. Juni rauskommt (illegale Raubkopien sind doch ein Segen…). Na gut: Dahinter folgen, auf Platz 2 bis 5, Spiele die „Command & Conquer“ heißen, oder „Hell’s Highway“, „Total War“ oder „Warhammer“ im Namen tragen. Doch auf Platz Sechs folgt der beschauliche „Landwirtschaftssimulator“. Wer will sich beschweren, wenn das eigene Kind – nach einem Tag mit Erniedrigungen und Problemen in einer völlig überfüllten Gesamtschulklasse (und einem überforderten Pädagogen) – nach Hause kommt und anfängt seine eigenen Genmaisfelder virtuell anzulegen, damit er Subventionen durch die EU kassiert.
Wie viel man natürlich von, per Internet-Befragung erzeugten, Benutzer-Hitlisten ableiten kann, ist fragwürdig. Ebenso ist es fragwürdig ob die Internetnutzer, die Lady Gaga mit ihrem Album „Fame“ an die Spitze der deutschen Hitparade gewählt haben, alle auch das Album käuflich erworben haben; oder ob es eine Klingelton-Hitparade geben muss, die mir durch diesen Blog-Eintrag erst wirklich bewusst wurde und deren „Scheiße, ich liebe Dich“ vom schlecht animierten Bieber „Mauli“ mich bis ans Ende aller Tage in Alpträumen verfolgen wird.
Fakt ist: Wir lieben Hitlisten. Gerade am Wochenende hab’ ich wieder meine Lieblingsfilme aufgelistet. Ohne das jemand nachgefragt hat, einfach so. Dabei ist mir aufgefallen: Für all die guten Filme die es gibt, reichen fünf Plätze … reichen nicht mal zehn Plätze aus. Eventuell ist was falsch an meiner Herangehensweise.
Die meisten Filme die ich mag sind so unterschiedlich – und ich meine nicht nur die Pornos (Girl on Girl, Boy on Girl, Boy on Boy, Animal Erotica …) – man kann die gar nicht vergleichen.
Okay: „Heat“ mit Al Pacino kann man mit „Der Duft der Frauen“ mit Al Pacino vergleichen, immerhin ist es beide Male Al Pacino und er ist beide Male unglaublich gut, aber ansonsten?
Beim Frühlingsfest in Weißensee (fragt mich nicht wie ich darauf komme), welches an diesem Sonntag stattfand, traten 16 Talente auf. Darunter war ein behindertes Mädchen das Mundharmonika spielte. Am Ende gab irgend so ein Penner mit Mikrofon, der scheinbar die Jury anführte, den Kontrahenten eine Wertung und Verbesserungsvorschläge (Und wir dachten: Castingshows hätte keine Auswirkungen auf unsere Gesellschaft!). Verbesserungsvorschläge für Behinderte und Dreijährige Kinder, die nacheinander aufgetreten sind. Drei der „Talent-Acts“ waren mit Erwachsenen besetzt, oder was ich in diesem Zusammenhang mal Erwachsene nennen will. Eines waren irgendwelche schwergewichtigen Schotten, dann noch ein übermotivierter Alleinunterhalter und zwei Jungs mit Gitarren. Gewonnen haben die zwei Jungs mit Gitarren. Gegen ein behindertes Mädchen mit Mundharmonika.
Selbst wenn ich der fucking beste Mundharmonikaspieler der Welt wäre, der mit seinem Mund, diesem kleinen Metallinstrument und seiner Zunge [Und meine Zunge ist nicht untrainiert!] „The Age of Aquarius/Let the Sunshine In“ (in der Version von „Hair“ und in voller orchestraler Besetzung) spielen könnte, selbst dann würde ich nicht gegen ein behindertes Mädchen antreten. Und ich wollte nicht bewertet werden. Ich weiß, man soll Rollstuhlfahrer und Downies (Ja, ich hab’ „Downies“ geschrieben für Menschen mit Down-Syndrom.) behandeln als wären sie so wie alle.
Hey! Newsflash! Wenn ich Zwei Meter und Vierzig groß wäre, würde ich auch nicht bei H&M nach Hosen fragen, oder?
Was ich machen würde, wenn ich saugut Mundharmonika spielen könnte? Ich würde mit dem behinderten Mädchen zusammen spielen, ich würde ihr zuhören und zusehen wie sie das Instrument spielt. Ich würde lernen, weil sie anders spielt als ich.
Ich würde mich nicht von einem dahergelaufenen Penner mit Mikrofon auf einem Frühlingsfest bewerten und verbessern lassen und ich würde Filme, Musik und Bücher die ich mag, nicht in kleine Top-5-Listen in meinem Kopf packen. Moment… irgendwas davon müsste auch gehen, ohne das ich saugut Mundharmonika spiele. Oder ich fang gleich an zu üben.
Das Glatteis emotionaler Zugeständnisse
Die größte Angst hatte ich davor, ihr zu sagen: „Ich liebe Dich.“
Dabei wollte ich es so sehr. Aber was alles dranhängt …
Und dann die Antwort. Oder garnichts. Ein Schulterzucken. Ein Lächeln, gerade ein kleines, wäre am allerschlimmsten gewesen.
Praktisch jeder Versuch mit ein entsprechendes Szenario vorzustellen endete im absoluten Angstschweiß. Absolut, weil erstmal herbeigedacht, ihn nichts mehr davonwischen konnte. Es brauchte Tage, Alkohol und viel Ablenkung.
Aber ich sah mich selbst nicht als übertriebenen Nachdenker. Nein, ich doch nicht.
Kinder sollten die einfache Wahrhaftigkeit von Kartoffelbrei wieder zu schätzen wissen
„Tun sie das etwas nicht mehr?“, fragte meine Freundin und spannte das Umstandslaken über die Futonmatratze.
„Nein. Na ja, nicht wirklich.“, antwortete ich. Mein Argument schien brüchig. Etwas zu wenig, vielleicht: „Bei all dem was heute noch so angeboten wird… Hamburger, zum Beispiel.“
„Hamburger sind doch praktisch nichts als Brot und Fleisch, vielleicht mit noch ein bisschen Grün dabei. Was kann wahrhaftiger sein?“
Sie lächelte und griff sich dann beide Kopfkissen, um das Streifenmuster gegen die stärker ausgewaschenen Übergangs-Quadrate zu wechseln.
„Du ruinierst mein Argument mit bestechender Logik. Das machst Du immer so. Furchtbar ist das.“
Und schon waren wir wieder mitten im Streit: Dabei hatte ich es ironisch gemeint, jedenfalls fast ironisch. Mit ein bisschen Wahrheit, ein bisschen Wahrhaftigkeit in den Worten.
Was man an einem Partner hat, mit dem man ordentlich streiten kann, weiß man erst, wenn man jeden (aber auch wirklich jeden) Anlass dankend annimmt um sich aneinander aufzuregen.
Klarheit
Rückenschwimmen fördert die Vorstellungskraft. Vorausgesetzt, man schwimmt nicht in einem dieser langweiligen Schwimmbäder, mit vergilbten Deckenlamellen, dann fördert es wohl nur den Drang endlich Kraueln zu lernen. Unter freiem Himmel allerdings … wobei: Man sollte schon eine Badehose anziehen. Nur so als Tipp. Es gibt ja auch Raubvögel. Gerade unter freiem Himmel.
Worauf ich eigentlich hinaus will: Viel von dem was wir so machen, ich so mache (ich muss aufhören im Kollektiv zu sprechen!), hat neben der offensichtlichen Eigenschaft, dem offensichtlichen Vorteil noch eine ganze Reihe von Nebenvorteilen. Oftmals kaum erkannt oder wenig erforscht.
Rückwärtsgehen. Ein Mann in Indien hat jetzt den Rekord im Rückwärtsgehen aufgestellt. Er ist in knapp vier Monaten rückwärts von Mumbai nach Neu-Delhi gelaufen (oder vorwärts von Neu-Delhi nach Mumbai, je nachdem welcher Denkschule man angehört). Achttausendsechsundneunzig Mal ist er hingefallen. Außer den offensichtlichen Vorteilen (Landschaft genießen und keine Tränen in den Augen durch Fahrtwind) wurden ihm so auch die nicht so offensichtlichen Vorteile (Gottvertrauen und Stärkung des peripheren Sehens) klar. Sechs Mal ist er übrigens von einem Auto angefahren worden. Nur einer der Autofahrer hatte dabei einen Airbag. Was uns dass, indirekt durch das Rückwärtsgehen, über die Zustände indischer Fahrgastsicherheit sagt? – Indische Airbags sind scheinbar viel zu sensibel eingestellt, wenn sie schon durch Rückwärtsgeher ausgelöst werden.
Aktien. Wer bisher an das schnelle Geld durch Aktien geglaubt hat, lernt nun die alte Weisheit „Kakao ist es, worin Du investieren sollst!“. Na gut, es ist keine wirklich alte Weisheit, aber wäre doch toll wenn. Und warum gibt es eigentlich keine Notierungen für Lakritze? Im letzten Quartal hab’ ich deutlich mehr Lakritze gegessen als Kakao getrunken. Es gibt auch keinen Schaumgummi-Index, Shrimp-Cocktail oder Chipsletten. Aber Soja und Orangensaft, war ja klar. Warum alle in Weizen investiert haben, wobei es doch auch wunderschöne Aktien zu Edelweinen oder Kaviar gibt, bleibt mir ein Rätsel. Das tolle Spiel mit Kursentwicklungen, hübschen Grafiken und den roten oder grünen Pfeilen, nach Unten oder nach Oben, lässt sich doch genauso gut ohne an Unterernährung sterbende Kinder in Afrika betreiben. Oder macht es dann keinen Spaß mehr? Einer der Vorteile der Finanzkrise ist vielleicht der endgültige Beweis der Komplexitätstheorie: In New York kann ein Broker Weizen oder Reis empfehlen und in Simbabwe gibt es Jubelschreie oder Massensterben. Der Broker ist natürlich nicht allein verantwortlich. Ich bin es mit ihm (oh wie gerne würde ich jetzt wieder zum Kollektiv greifen!). Jedenfalls solange ich nicht selbst-geklöppelte Holzschuhe, gewebte Hosen, gestrickte Pullover mit Wolle von südhessischen Schafen, Kartoffeln aus dem eigenen Garten, Wasser aus dem Brunnen nutze und in einer Hütte aus deutscher Eiche schlafe. Klingt doch garnicht so schlimm … jedenfalls wenn die Hütte WLAN hat.