Block 1

29.10.
Neuartig an dieser Stadt ist das Geräusch der Straße. Es ist alter Asphalt, der da am Boden liegt. Tausendmal geflickt, tausendmal erneuert. Aber eben alter Asphalt. Köln klingt westdeutsch, sieht westdeutsch aus und riecht sogar westdeutsch. Was nicht heißt: Köln stinkt nicht. Es stinkt. Es riecht, es müffelt. Aber eben westdeutsch. Vielleicht liegt es am Trinkwasser und dem Rest den es in den Urin der … ach. Lassen wir das.
Großartig ist die Tatsache, dass man am Montagabend an einer verlassenen Haltestelle im höchsten Norden des Tarifgebietes 1b in einen Bus steigen kann und eine immigrantisch klingende Frau und ein, allem Anschein nach, Flaschen-Egon (oder: Pfand-Sammler) mir den besten Weg nach Hause erklären. Simultan. Und vollkommen richtig. Ich meine nicht ungefähr. Ich meine vollkommen. Schlafwandlerisch. Beeindruckend. Jetzt werden wieder Einige fragen: Woher wussten Egon und Immi wo ich wohne, aber das ist eine andere Geschichte.
Ich vermisse Berlin. Ja, jetzt schon. Ich vermisse die breiten Bürgersteige für all die Querläufer und Querdenker. Ich vermisse die alt gebauten Häuser und den viel breiter wirkenden Himmel. Gott, aber diese Frauen hier.
Ich meine: Der Rhein ist nicht die Copa Cabana. Lange nicht. Aber irgendjemand hat den Mädels hier beigebracht sich anzuziehen. Und wie. Sie sehen toll aus, selbst wenn es stürmt und gießt. Vorgenommen, für den 30ten, habe ich mir: Das Pferdeschwanzmädchen aus dem Schaufenster von Rossmann, welches das Haargel-Regal umgeräumt hat, anzusprechen. Vielleicht kaufe ich Schaumfestiger. Haargel hab’ ich noch genug.

30.10.
Warum gibt es eigentlich Schichtarbeit? Ich meine, ich verstehe die rein technischen Bedingungen: Nehmen wir eine Produktionskette für Hustensaft. Dort ist es unbedingt notwendig, dass Tag und Nacht produziert wird. Aber bei Rossmann? Frühschicht, Spätschicht, Tagschicht? Nach fünfundvierzig Minuten, die man unentwegt auf die drei zur Auswahl stehenden Schaumfestiger im Regal geblickt hat, hält einen das Personal für geisteskrank und die meisten Passanten für einen Terroristen. Mal ehrlich: Welcher Terrorist würde sich in einem Rossmann hochjagen? Vielleicht bei Schlecker, oder Ihr Platz, aber Rossmann? Wie eitel kann man eigentlich sein. Da kauft doch um die Zeit keiner mehr ein.
Egal. Ich rege mich auf. Nicht gut. Dabei war heut’ wirklich gutes Wetter. Essen war auch gut. Und ich stand zeitgleich in einer Notaufnahme, einem Holding-Büro (wobei ich mir immer noch nicht ganz sicher bin was eine Holding eigentlich ist und warum sie ein Büro braucht), einem Kaminzimmer, einer Schlossküche, einem Salon und einer Empfangshalle. Dazu hab’ ich nicht mal einen Delorian gebraucht. Kleiner Tipp: Wenn mal jemand wissen möchte wie man am besten von Nippes ins Gewerbegebiet Ossendorf kommt: Nicht mit dem 147 über Bilderstöckchen und dann mit dem 148 weiter bis Mathias-Brüggen-Straße. Lieber die 15 und ab Longericher den 139er. Und sollte jemand fragen: Niemals auf Arbeit sagen, man hätte sich in den S- & U-Bahn-Plan rein gekniet. Einheimische mögen das nicht. Ist so wie nen Kaninchenzüchter fragen: „Joa! Is des ein Rüde?“
Morgen schenk ich mir selber einen freien Abend und gucke alte Folgen Seinfeld auf Comedy Central. Schon mal aufgefallen: Das ist in keiner Form lustig. Überhaupt nicht. Na ja, vielleicht auf Koks. We’ll see.

31.10.
Notlügen. Notlügen sind so ungefähr das Anstrengendste auf der Welt. Richtig ausgeführt sind sie nämlich kompliziert, mehrdimensional und so komplex wie Kernreaktoren. Das heißt: Zuerst ist eine Notlüge nie einfach nur: „Tut mir leid. Ich bin im Stau stecken geblieben.“
Man erfindet wendungsreiche Geschichten, wie: „Gerade als ich aus dem Haus wollte, rief meine Mutter an. Natürlich wollte ich gleich das Gespräch beenden, aber sie erinnerte mich daran, dass ab heute bei Media Markt die Espressomaschine von Bosch im Angebot ist. Sie konnte aber nicht vorbei fahren, weil sie auf den Eismann gewartet hat. Deswegen bin ich schnell hin. In Wedding hatten sie keine Bosch-Maschine mehr, also bin ich noch nach Tiergarten.“ Mehr Dimensionen erfährt eine Notlüge über verschiedene Arten des Betrugs und der Erfindung. „Nein. Ich hab’ den Attest nicht nur vergessen, ich werde wohl auch keinen besorgen können: Mein Hausarzt, bei dem ich war, ist für zwei Wochen im Urlaub.“
Und die Komplexität einer Notlüge wird durch unbekannte und schwer beeinflussbare Variablen erzeugt: „Weil es heut’ so kalt war, sprang mein Auto nicht an und ich wusste nicht wann der Bus kommt, weil jemand den Plan an der Haltestelle abgerissen hatte, deswegen wollte ich eine Station laufen – auch damit mir warm wird – da überholte mich der Bus und ich konnte lange auf den Nächsten warten. Die fahren leider nur noch Unregelmäßig, die von der Nahverkehrsgewerkschaft streiken doch.“ Erzähl mal so eine Geschichte im Hochsommer und direkt nach einem neuen Tarifvertrag und in Grunewald, wo jeder weiß: Da reißt niemand Pläne von Bushaltestellen ab und jeder Busfahrer wartet bis der einzige Fahrgast am Tag zur Haltestelle vorgelaufen ist. Ein Letztes:
Notlügen haben nichts mit echten Lügen zu tun. Sie sind moralisch gesehen, eine Grauzone. Genau genommen sind sie gut verzeihbar und eigentlich irgendwie süß. ; )

1.11.
Man stelle sich folgende Situation vor: Eines morgens, alles scheint wie sonst, tritt man aus der Haustür und niemand ist da. Ich meine jetzt richtig „niemand“. Keiner, absolut Nobody! Und wenn man sich zurück erinnert: Man hat auch im Haus niemanden gehört. Keiner da. Nicht im Treppenhaus und auch nicht im Fahrstuhl.
Man geht also ein paar Schritte, horcht und vernimmt: Überhaupt nichts. Kein Auto auf der Straße. Nicht mal ein Bus. Erste Zweifel schleichen sich ein: Traum? Ein David Lynch Film? Oder doch eine Seuche? Ein Angriff von Außerirdischen mit menschenfressenden Todesstrahlen? Eine Hausecke weiter ist man sich sicher: Etwas stimmt nicht. Hier läuft was ganz faul. Schließlich betritt man den U-Bahnhof. Man wartet die veranschlagte Zeit und dann doch: Eine U-Bahn rollt ein. Die Türen öffnen sich, niemand drinnen. Völlig perplex geht man vor zum Führerhaus und doch: Ein kauziger Mann in KVB-Uniform schläft halb über den Kontrollen. Das ist zwar kein vertrauensbildender Anblick, aber immerhin. Ein lebendiger Mensch. Und dann dämmert es mir: Feiertag. Und wir sind nicht in Berlin. Wir sind in Köln, was nach Hauptstadtmaßen in Bezug auf Feiertage in Bayern liegt.
Und das heißt: Niemand geht raus. Niemand spricht und Autofahrer kommen sowieso direkt in die dritte Vorhölle. Mit Hass und Selbstzweifel fahr’ ich also zur Arbeit und tatsächlich: Man arbeitet. Man arbeitet „vor“. Wie blöd ist das denn? In Berlin freut man sich wenn jemand nacharbeitet, hier arbeitet man vor.
Wir können noch viel von Westdeutschland lernen, die Feiertage gehören nicht dazu. Wir – und das sage ich stolz – sind Berliner. Hach wie ich das vermisse.
Trotzdem wurmt mit eins: Warum ist eigentlich der 1.11. ein Feiertag? What the hell happend back then? Irgendwas mit Jesus? Was mit Maria oder Mariä? Ein Kölner würde jetzt aufstehen, sich räuspern und die Krawatte zu Recht rücken, bevor er in melodischen Worten eine fein durchstrukturierte und emotional als Bogen gehaltene Erzählung beginnt. Ein Berliner sagt: Scheiß drauf! Hab ich sowieso nicht frei.

2.11.
VERBOTENE TRIEBE
Die erste Horror-Soap … noch nicht im ersten deutschen Fernsehen.
Erste Szene der Pilotfolge: Zwei Typen fahren in einem Kleinwagen durch das nächtliche, verregnete Köln. Plötzlich fragt der Beifahrer: „Hast du mal nen Stift?“ Der Fahrer kramt, sucht und gibt dann einen Kugelschreiber weiter. Ohne die Mine auszufahren rammt der Beifahrer dem Fahrer den Stift in den Oberschenkel. Ein lauter Schrei. Der Kleinwagen macht gefährliche Schlenker auf der Fahrbahn. „Spinnst du!?“, fragt der Fahrer, sich gleichzeitig das blutende Bein haltend und versuchend auf den Verkehr zu achten. „Wieso?“, will der Beifahrer wissen. „Ich bin der Serien-Psychopath. Hast du die Mail nicht gelesen?“ Enden auf dem entsetzten Fahrer, im Hintergrund ein diabolisches Lachen des Beifahrers. TW. Establishing Shot: Morgendliche Wohnhaussiedlung. In der Küche eines jungen Paares sitzt Er am Küchentisch und schmiert sich ein blutrotes Butterbrot. Sie kommt herein, sucht im Kühlschrank nach Milch, findet nichts und schaut sich dann prüfend in der Küche um. Als Sie das Butterbrot sieht runzelt Sie die Stirn. „Sach ma? Was ist’n mit der Butter los?“ Ertappt schaut Er auf und sieht Sie ängstlich von Unten an. „Ich hab’ heut’ Morgen den Hund geschlachtet und ihn ausbluten lassen. Dann hab’ ich das Blut unter die Butter gemischt.“ „Mensch!“, fährt Sie Ihn an. „Der Hund war für die Feiertage. Jetzt kannst du schön ins Tierheim und einen Neuen aussuchen. Einen mit braunem Fell, der nicht zu mager ist.“ Enden auf Ihm, schuldbewusst.
Schalten sie auch nächste Woche wieder ein, wenn geklärt wird ob Er einen neuen Hund findet und ob der Fahrer überlebt oder am Ende der Beifahrer eine weitere Attacke startet.
(Schlag mich, wenn ich mich irre: Sollte man mir das Keyboard wegnehmen?)

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