Er saß auf dem Dach eines Hochhauses, ließ die Beine über die Balustrade baumeln und blickte in die Ferne. Höhenangst war noch nie ein Thema für ihn gewesen. Er stand so fest auf einem Fenstersims im fünften Stock, wie auf der Bordsteinkante. Ein paar Minuten vorher hatte er zwei Pakete im achten und im vierzehnten Stock ausgeliefert, dann einfach den obersten Knopf der Fahrstuhlarmaturen gedrückt und hatte dann das abschließende Stockwerk mit einer Treppe überwunden. Jetzt war er ganz Oben.
Die Stadt lag in jener kaum greifbaren Kälte da, in der Städte immer kurz vor dem Herbst daliegen. Von Sonnenstrahlen wie dünne Gesteinsschichten durchzogen, sind die Straßen nie ganz ungemütlich zu bewandern, allerdings trägt niemand mehr kurze Hosen oder Flip-Flops.
Er mochte das Geräusch von Flip-Flops. Das Geräusch das die Flip-Flops seiner Freundin gemacht hatte, wenn sie durch den Hof zu seiner Wohnung im Hinterhaus geschlürft war. Er hatte sie schon gehört, bevor sie mit ihrem eigenen Schlüssel seine Wohnungstür öffnen konnte. Aber ihm wäre im Traum nicht eingefallen ihr durch sein Küchenfenster etwas zur Begrüßung zu zurufen. Sie war nicht die Art von Mädchen der so was gefiel.
Ihm ging durch den Kopf, dass er immer mit Mädchen zusammen war, die Sachen nicht mochten, die er unglaublich gerne tat oder tun wollte. Er war zum Beispiel noch nie mit einer Freundin in einem dieser alten Foto-Automaten gewesen, in die man sich hineinsetzt und sich dann vor der vier Mal knipsenden Kamera küsst. Er wollte so was schon immer mal machen. Er wollte den schwarz-weißen Fotostreifen dann in die Küche, neben die Postkarte „New York bei Nacht“, hängen, damit er noch etwas hatte was romantisch und spießig zugleich war, nur um zu beweisen das es ihm wirklich ernst mit der Beziehung war. Aber so was war ihm nicht vergönnt.
Mädchen die er toll fand, Mädchen mit denen er zusammen war, waren anders als so was. Sie waren unkonventionell und tranken lieber Tee, als Kaffee. Nicht wegen der Kaffeebauern, sondern wegen dem Raubbau an sich selbst durch Koffein. Mädchen mit denen er zusammen war, tranken kein Mädchen-Bier. Sie tranken nur exotische Biere, aus China oder Thailand. Sie tranken starke Biere, Guinness oder Ale. Sie nahmen auch keinen Zucker in ihren Tee, manchmal Kandis. Sie rümpften die Nase, wenn er Süßstoff nahm, weil ihn der chemische Geschmack so an diese roten supersüßen Kirschlimonaden erinnerte, die in diesen Weichplastikflaschen mit dem nur einmal abdrehbaren Korken abgefüllt waren.
Mit solchen Mädchen war er zusammen. Nicht mehr als eine Handvoll hatte es davon gegeben. Und er hatte jede Einzelne wirklich geliebt. Aber langsam zeichnete sich ein Muster ab. Seine Mutter hätte gesagt: Man gleicht sich in der Beziehung aus.
Er wollte aber auch mal der Andere sein.
„Hey!“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Er drehte um und hielt sich dabei instinktiv an der Balustrade fest. Eine junge Frau stand an der Tür zum Treppenhaus, welches aufs Dach führte. Noch hielt sie die Tür auf.
„Kann man die Tür vom Dach aus wieder aufmachen? Nicht das wir hier Oben am Ende ausgesperrt sind.“
Er nickte. „Ja, kann man. Die hat einen beidseitigen Schnapper.“
Warum hatte er das gesagt? Schnapper hörte sich so komisch ausgesprochen an. So ein Wort sagte man nicht, oder er nicht.
Sie nickte zurück. „Okay, gut.“
Sie ließ die Tür zufallen, griff sich in die Hosentasche und förderte eine Packung Zigaretten zutage. Langsam gesellte sie sich zu ihm, steckte sich eine Zigarette an und nahm schnell einen gierigen Zug, bevor sie ihm auch eine anbot. Er schüttelte den Kopf.
„Bist Du nicht hier Oben, weil Du eine rauchen wolltest?“
„Nein. Ich hab’ die Stadt noch nie von dieser Stelle aus gesehen.“, antwortete er. Sie nickte und er hatte tatsächlich das Gefühl sie verstand ihn.
„Paketjunge?“
Er sah sie irritiert an und sie nickte zu seiner braunen Uniformjacke mit dem Schriftzug über der rechten Brust.
„Ja.“
„Ich mag das.“
„Was?“
Sie lächelte. Ihm fiel auf, dass sie einen schiefen Schneidezahn hatte. Vielleicht war der Zahn auch abgebrochen, jedenfalls gab es eine Lücke, die wie ein auf dem rechten Winkel liegendes, rechtwinkliges Dreieck aussah, wenn sie die Zähne zusammenbiss. Ihre Lippen waren irgendwas zwischen dunklem Violett und gedecktem Rosa, damit passten sie sich aber nur der allgemeinen Blässe ihres Gesichtes an. Ihre Nase steckte unter einem sehr kontrastreichen Teppich aus Sommersprossen und ihre Augenfarbe war Nassgrün.
„Nassgrün.“, murmelte er.
„Wie bitte?“ Sie starrte ihn an, hatte seine Frage nicht beantwortet und stellte jetzt eine Gegenfrage.
„Du magst zusammengesetzte Wörter, oder?“
„Stimmt genau.“
„Deine Augenfarbe ist Nassgrün.“
Sie lächelte wieder.
„Kann man so sagen. Hat bisher noch keiner. Einmal sagte mein Freund, der jetzt mein Ex-Freund ist, sie sähen Dunkelgrün aus. Aber Nassgrün gefällt mir besser.“
Irgendwie machte ihn das stolz. Gleichzeitig zuckte er unmerklich und eher in Gedanken ein bisschen zusammen, als sie von ihrem Freund erzählte. Was hatte er mal von einer Freundin, die niemals seine Ex-Freundin war und nie sein würde, als guten Rat bekommen? Als Mann sollte man vor einer Frau nie zu lange über Ex-Freundinnen reden. Nun war die Situation hier wahrscheinlich nicht das, wovon seine Freundin damals gesprochen hatte. Sehr wahrscheinlich sogar nicht, aber trotzdem: Galten für Frauen andere Regeln als für Männer? Das war ihr sechster Satz, oder so, zu ihm gewesen und gleich sprach sie von ihrem Freund, oder Ex-Freund. Was wollte sie damit ausdrücken? Das sie unabhängig und selbstbewusst war? Niemand konnte sie lange halten, weil sie frei sein wollte und – – – er sollte sich nicht so viele Gedanken machen und sich lieber über das Kompliment freuen.
Er nickte ihr zu und lächelte, schmal zwar aber immerhin.
„Zigarettendach. Deswegen bin ich hier Oben.“, fuhr sie fort. „Jemand sagte, dass dieses Haus ein Zigarettendach hat und wir dürfen in den Büroräumen nicht rauchen, oder nicht mehr. Ich fand das Wort gut und ich bin nervös, weil dies mein erster Tag ist.“
„Was machst Du?“, fiel ihm nur ein.
„Ach. Was mit Zahlen.“
Er nickte und konnte so wenig mit dieser Aussage anfangen, wie sie beabsichtigt hatte.
Während sie zwei Mal kräftig an ihrer Zigarette zog, fuhr sie sich vorsichtig mit der rechten, unbeschäftigten Hand durch ihre schulterlangen, braunen Haare. Es sah danach aus, als hätte sie versucht die Haare mit einem Zopfband hinter dem Kopf lose zusammen zu binden, aber ein paar Strähnen waren entkommen und hingen nun wie Vorhangskordeln rechts und links rahmend neben ihrem Gesicht. Eine der Kordeln strich sie hinter ein Ohr. Vielleicht hingen die Kordeln aber auch absichtlich dort.
„Hast Du Höhenangst?“
„Nein.“ Sie schüttelte unterstreichend den Kopf und die Kordel rutsche in die alte Position zurück.
„Wieso fragst Du?“
„Du stehst so weit vom Rand weg, da dachte ich.“
„Ach so.“ Sie machte einen kleinen Schritt auf die Balustrade zu, wirkte aber nicht sehr glücklich damit.
„Vielleicht hast Du Recht. Wo soll ich eigentlich die Kippe hinwerfen, wenn ich fertig bin?“
Sie zog noch einmal an der Zigarette und die Glut hatte beinahe den Marlboro Light Aufdruck erreicht.
„Gibt’s hier irgendwo einen Aschenbecher? Hast Du einen gesehen?“
„Nein.“, sagte er und wollte schon den Kopf schütteln, dann nutzte er die angebrochene Geste um sich vergewissernd auf dem Dach umzusehen.
„Nein, kein Aschenbecher hier.“
„Kann ich die runter auf die Straße schmeißen?“
Er folgte ihrem angedeuteten Blick nach Unten.
„Kannst Du bestimmt“, begann er. „Aber ob das den Tag einer Person da Unten so gut beeinflusst, wenn die plötzlich Deine Kippe im Haar hat …“
Er ließ den Satz ausklingen und sah weiter stur nach Unten. Jetzt bloß nicht sie ansehen.
„Darüber machst Du Dir Gedanken?“, fragte sie und drückte die aufgerauchte Zigarette an der Balustrade aus. Er nickte und sah sie doch an. Sie lächelte.
„Lustig.“
Sie drehte sich um und rieb sich kurz fröstelnd die Arme, während sie zurück zur Tür zum Treppenhaus ging.
„Tschüss.“, sagte sie an der Tür angelangt. Es klang wie ein Schlagzeugtusch am Anfang eines Liedes.
„Tschüss.“, sagte er und dann: „Trinkst Du Kaffee?“
Sie stoppte in der Bewegung, mit der sie die Tür aufstemmte.
„Ja. Wieso? Willst Du mich einladen?“
Sie lächelte und erst jetzt fiel ihm auf das sie ziemlich klein und zierlich und unglaublich verletzlich neben der schweren Metalltür wirkte. Er konnte nicht bestreiten dass er das mochte.
„Nein. Jetzt noch nicht, jedenfalls. Ich muss weiter. Meine Tour machen.“
Sie verlor das Lächeln.
„Vielleicht an einem anderen Tag. Ich komm öfter hier vorbei. Welcher Stock?“
„Achter. Planung & Statik. Ich heiße Kathrin.“
„Hannes.“, sagte er und sie lächelte wieder.
„Bis dann, Hannes.“, sagte sie.
„Trinkst Du Deinen Kaffee mit Zucker oder mit Süßstoff.“, wollte er noch wissen. Sie lächelte breiter, ein bisschen Stirnrunzeln spielte nun mit ein.
„Äh … mit Zucker und Milch und manchmal auch Süßstoff.“
„Okay.“
Er sagte nichts, sie sagte nichts. Dann: „Okay.“ Und sie war runter vom Dach.
Er blickte noch einmal über die Stadt. Ein vereinzelter, durch ein paar Wolkenfetzen brechender Lichtstrahl traf ihn im Gesicht. Er blinzelte und dann wurde ihm wärmer. So kalt war es noch nicht. Noch kein Herbst. Mehr ausgehender Sommer. Sommerabschied. Abschiedssommer.
Er schnippte die ausgedrückte Zigarette von der Balustrade nach ganz weit Unten. Nicht immer so viele Gedanken machen, hallte es in seinem Kopf nach. Erst zehn Minuten später, bereits im Fahrstuhl nach Unten, machte er sich Vorwürfe.
mag ich !
… wie aus dem Leben gegriffen…