Schrei lieber lautlos (eine Geschichte in viel zu langen Sätzen)

Ohne sein typisches, viel zu lautes „Ahhhh“ nach dem ersten Schluck aus einem kalten Bier, stellte er die Flasche fasst passgenau auf das kreisrunde Schöfferhofer-Logo des quadratischen Bierdeckels. Er trank Becks, natürlich. Aber seine Gedanken waren nicht beim Bier, nicht beim kreisrunden Schöfferhofer-Logo, nicht bei der Ansprache die er noch vor zwei Wochen gehalten hatte, vonwegen das man auf einer blank polierten Theke eigentlich überhaupt keine Bierdeckel braucht.
Seine Gedanken waren nicht mal in dieser Kneipe.
„Alter. Du siehst beschissen aus.“
Sascha ließ sich neben ihn auf den Barhocker fallen und nahm sich seinen Jägermeister. Sascha bestellte immer einen Jägermeister. Zu jedem Bier. Ihm war schon oft der Gedanke gekommen dass Sascha wahrscheinlich Alkoholiker war. Jetzt nicht mehr. Jägermeister gehörte einfach zu Sascha, wie die strubbeligen Haare, die dunkelgrünen Augen und die kleine Narbe auf dem Kinn, die er sich als Kind am Beckenrand im Schwimmbad eingefangen hatte.
„Wie meinst’n das, beschissen?“, fragte er Sascha. Sascha zuckte mit den Schultern.
„Ich bin eben so vom Klo zurück gelaufen und da dachte ich mir: Was heute Abend wirklich hier nicht reinpasst … bist Du. Was is’n los?“
Um die Antwort zu umgehen trank er schnell noch einen Schluck. Das Becks schmeckte schal, irgendwie zu bitter und sonst nach nichts.
„Na?“, forderte Sascha seine Antwort ein.
„Ach.“
Für einen kurzen Moment dachte er über die Möglichkeit nach, sich mit Sascha für Stunden nur mit Zwei- oder Drei-Buchstaben-Worten zu unterhalten. Auf ein „Ach“ würde ein „Wat?“ folgen, dann ein ablehnendes „Nee“, ein aufforderndes „Hm?“, dann ein „Tz“ um das Thema zu wechseln, mit einem „Da“ würde man in Richtung des Fernsehers deuten, dann mit kopfschüttelnden „Ph“s und „Sch“s die Ergebnisse der zweiten Liga vom Sonntag kommentieren … es könnte ewig so weiter gehen. Stattdessen sagte Sascha:
„Los jetzt! Jetzt bock nicht.“
Er musste grinsen.
„Okay.“, sagte er und nahm noch einen Schluck Becks um sich zu sammeln. „Ich hab’ Dir doch von diesem Mädel erzählt …?“
„Die mit dem dritten Nippel?“
Für einen kurzen Moment schien es ganz still in der Kneipe. Der Barkeeper drehte sich zu ihnen herum.
„Was? Welcher dritte Nippel?“ Es war ihm peinlich. Sascha grinste breit.
„Schon gut. Dieses Mädel also …“
„Ja.“, begann er erneut und Barkeeper und Lautstärke der Kneipe kehrten wieder zu ihren gewohnten Beschäftigungen zurück. „Dieses Mädel das ich kennen gelernt habe. Ich glaub ich mag die.“
„Shit.“ Sascha sah ihn wirklich erschrocken an. So erschrocken, dass er beschwichtigend die Hand hob.
„Nein, nein. Das ist gut. Das ist doch gut, glaube ich. Wirklich.“
„Nein, nein.“, unterbrach ihn Sascha. „Ich glaube ich hab zuhause die Kaffeemaschine angelassen.“
„Was?“
„Ja, ja. Aber … egal. Erzähl weiter. Wenn die Wohnung abbrennt, dann ist das schon passiert.“
Er sah Sascha entgeistert an. Manchmal wusste er einfach nicht wie er mit diesem Typ umgehen sollte.
Sascha leerte derweil sein Bier im ersten Ansatz zur Hälfte, dann sah er ihn auffordernd an: „Du warst gerade bei dem Mädchen das Du glaubst zu mögen…?“
„Äh, ja. Also: Erinnerst Du Dich an den Film Swingers, den wir vor ein paar Monaten nachts in der Kurbel gesehen haben?“
Sascha nickte. „Der mit dem jungen Vince Vaughn, wo wir uns noch gefragt haben wie man so krass zunehmen und hässlich werden kann?“
„Genau der. Da gibt es diese Szene in der Jon Favreau in einer Bar die Telefonnummer von dieser Frau bekommt. Er war seit Monaten nicht weg, kommt gerade aus einer langen Beziehung und er weiß nicht wie er mit all dem umgehen soll.“
„Ja, ja. Ich erinnere mich.“ Sascha leerte im zweiten Ansatz das Bier fast vollständig. Wahrscheinlich musste man schon ein Profi sein, um ganz genau immer die Pfütze in der Flasche zu lassen, die potentiell Spucke enthält und ungenießbar ist. Sascha war ein Profi.
„Gut, also.“, fuhr er fort, während er weiter Saschas beinahe leere Flasche musterte. „Jon kommt noch in der gleichen Nacht nach Hause, es ist kurz vor Vier oder so, und er überlegt was er machen soll. Aus irgendeinem blöden Grund, weil er unsicher ist oder so, ruft er bei der Frau aus der Bar an. Natürlich geht nur der Anrufbeantworter ran, er legt schnell wieder auf, dann überlegt er es sich anders, spricht doch drauf, schafft es seine Nummer nur halb zu hinterlassen, ruft noch mal an, entschuldigt sich, ruft noch mal an, versucht alles wieder hinzu biegen, und ruft dann noch mal an, um ihr zu sagen: Sie soll einfach alles vergessen was er drauf gesprochen hat. Genau dann geht sie schlaftrunken ran und sagt ihm er soll nie wieder anrufen.“
Sascha winkte dem Barkeeper und dieser brachte ein neues Becks und einen weiteren Jägermeister. Wie er den Jägermeister vor Sascha so stehen sah, merkte er wie es in seinem Bauch arbeitete: Vielleicht war es zuviel Alkohol die letzten Tage gewesen. Er hob die Hand und bestellte eine Cola.
„Cola, ja?“ Sascha sah ihn stirnrunzelnd an.
„Ja. Mir ist schlecht.“
„Wie gesagt: Du siehst beschissen aus. Hast Du nicht geschlafen? Ist dieses Mädel daran schuld?“
„Nein. Aber was meinst Du zu der Szene aus dem Film?“
„Klingt lustig.“
„Nein. Meinst Du nicht das die einem was sagen soll?“ Langsam wurde er ungeduldig. Sascha musste doch merken worauf er hinauswollte.
„Die sagt uns: Niemals nachts telefonieren.“
„Ach! Nein. Es geht um Unsicherheit, Du Idiot.“
„Und Du bist unsicher weil Du dieses Mädel vielleicht magst.“
„Ich glaube ich mag sie. Das ist ein Unterschied.“
Sascha schüttelte verächtlich den Kopf: „Ach, scheiß doch drauf.“
„Auf sie?“
„Nein. Nicht auf sie. Scheiß auf diese Kategorien. Scheiß auf „vielleicht“ oder „ich glaube“. Man mag oder man mag nicht. Und wenn man darüber nachdenkt ob man mag, dann mag man auf jeden Fall.“
Sascha setzte den neuen Jägermeister an, kippte ihn runter und Sascha entfuhr genau jenes „Ahhhh“, was er vorhin nicht fertig gebracht hatte.
„Wie kannst Du nur soviel trinken und dann noch solche Sätze sagen.“, fragte er Sascha. Sascha grinste.
„Ich bin ein Naturwunder. Prost.“
Sascha stieß mit seinem zweiten Bier gegen das unberührte Cola-Glas und nahm einen großen Schluck.
„Ich mag wie sie neben mir läuft, weißt Du.“
Der Satz war ihm einfach so rausgerutscht. Vielleicht weil er seit zwei Tagen darüber nachgedacht hatte, vielleicht weil er jetzt daran denken musste. Aber nun war er raus.
„Du magst wie sie neben Dir läuft?“, wiederholte Sascha fragend.
„Ja. Ich mag ihre Hand in meiner Hand. Sie ist nicht zur groß – also, sie als Person, nicht die Hand – so muss ich meinen Arm nicht anwinkeln. Sie ist nicht zu klein, so dass ich sie irgendwie hochziehen müsste. Nein. Es passt ganz einfach. Ich mag wie sie neben mir läuft.“
„Oh mein Gott.“
Sascha leerte auch sein zweites Bier und wischte sich – fast schon comicartig – über den Mund.
„Wenn Du mir jetzt auch noch von ihren Augen erzählst …“
„Ich fands toll wie sie mich am Wochenende, als wir uns in diesem Club verabredet haben, von der Bar aus gesucht hat. Ich hab mich extra noch etwas hinter dem Kumpel versteckt, mit dem ich mich unterhalten habe, damit sie noch weiter sucht. Der suchende Blick war … war …“
„War toll! Ja, ich verstehe. Hör mal zu:“
Wie, um seine Worte zu unterstreichen, drehte sich Sascha auf seinem Barhocker zur Seite und blickte seinem Gegenüber tief in die Augen.
„Bitte versprich mir nicht wieder durchzudrehen.“
„Darum ging’s doch in der Szene aus Swingers, deswegen- – -“
„Ja, ja, ja. Du kannst noch so viele Szenen zitieren, die Dir angeblich zeigen wie das abläuft, aber das heißt nicht dass Du irgendwas weißt. Fakt ist: Du bist nicht dafür gemacht mit Mädchen umzugehen.“
„Ach. Das ist doch- – -“ Diesmal unterbrach Sascha den Widerspruch mit einem erhobenen Finger.
„Das ist überhaupt kein Schwachsinn. Das ist genau so. Tut mir leid Dir das so sagen zu müssen, aber es stimmt. – Erinnerst Du Dich noch an Hannah in der zwölften Klasse?“
Kurz blitzte Unsicherheit in seinem Blick auf, dann nickte er.
„Ja.“
„Da hast Du Dich aufs Schuldach gestellt und geschrieen „Ich liebe Hannah für immer!“. Das war nicht nur total peinlich, es war der Anfang vom Ende. Nach den Sommerferien hat sie Schluss gemacht. Du erinnerst Dich?“
„Ja. Ich erinnere mich.“
„Na also. Dann hör auf mich. Ich find das ja gut, dass Du laut schreien willst …“
„Ich will überhaupt nicht laut schreien.“, versuchte er zu protestieren. Sascha winkte milde lächelnd ab.
„Doch, doch, doch. Du willst. Und das ist ja auch ganz süß.“ Er verzog das Gesicht und Sascha schmunzelte über seine eigene Bemerkung. „Die meisten wollen schreien, wenn sie verliebt sind. Das ist doch auch das gute dran, aber ich sag Dir: Wenn Du’s nicht versauen willst … schrei lieber lautlos.“
Für einen langen Moment sagte keiner etwas. Sascha blickte nur konzentriert seinem Gegenüber in die Augen. Schließlich merkten beide dass es an der Zeit war die Stille zu durchbrechen. Sascha drehte sich wieder zur Theke.
„Und jetzt nimmst Du auch einen Jägermeister.“
„Irgh. Nein.“, antwortete er und griff sich an den Bauch, aber Sascha hatte dem Barkeeper schon gewunken. Sekunden später standen zwei frische, bräunlich-dickflüssig gefüllte Schnapsgläser vor den Beiden. Sascha hob sein Glas an und deutete sein Prost nur an.
„Auf Dich.“
„Auf Dich.“, antwortete er Sascha. Dann kippten sie beide runter. Noch am gleichen Abend musste er sich übergeben. Er war einfach noch nicht so weit mit Sascha mithalten zu können. Sascha meinte dazu nur: Soweit muss man auch nicht sein.

3 Gedanken zu „Schrei lieber lautlos (eine Geschichte in viel zu langen Sätzen)

  1. noir

    Wenn man darüber nachdenken muss, ob man mag oder nicht mag…sorry, aber dann mag man nicht. dann sollte man´s echt gut sein lassen. ich schwör.

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