(18.08.2012 – 15:30 bis 17:19)
Fast dreißig Grad. Gefühlte Vierzig. Es ist heiß im Weserstadion. Ungewöhnlich heiß.
Mein erster Profi-Fußball-Besuch seit Jahren und ich schwitze. Aufregung?
Bei der Verlesung der der Gast-Startelf brüllt das mitgereiste Publikum lauthals die Namen mit. Beziehungsweise: Das gesamte Publikum brüllt die Namen mit. Neunzehntausend und etwas mehr sind gekommen. Fast ausschließlich in schwarz-gelb. Und dabei sind wir in Bremen. In der beeindruckend-modernen Heimspielstätte des SV Werder. Doch nicht an diesem Samstag. Der FC Oberneuland hat den deutschen Meister geladen. Statt vor möglichen 5050 Zuschauern im eigenen „Sportpark Vinnenweg“ zu spielen, hat man das Weserstadion gemietet. 15000 Zuschauer braucht es um Gewinn zu erzielen. Gerade so geschafft.
Ich sitze im Heimblock und trotzdem umgeben von gelben „EVONIK“-Trikots. Ganz nebenbei: Was macht EVONIK eigentlich? Dem Internet nach ist es eines der weltweit größten Unternehmen der Spezialchemie. Aha. Also machen die irgendwas gutes mit Forschung, gell?
Ich sehe mich also um und sehe nichts als gelb-schwarz. Für einen Bremer vielleicht ein Problem. Für mich nicht. Ich bin kein Bremen-Fan. Eigentlich bin ich überhaupt kein Fan. Jedenfalls nicht einer bestimmten Mannschaft. Als gebürtiger Hamburger wurde ich zwar schon unruhig, als bekannt wurde, dass Rafael Van Der Vaart zurück zum HSV kommt. Aber deswegen muss ich mir doch nicht gleich den Samstagnachmittag frei schaufeln und das live sehen. Was ist falsch an einem gut geschnittenen Sportschau-Beitrag?
Ich bin eben eher ein Fußballtourist. Ein, am Fußball Interessierter. Wenn überhaupt: Ein genereller, ein globaler Fußballfan. Ein Fußball-Weltbürger. Selten zwar, aber mich interessieren die Zwischentöne, nicht wer die erste Geige spielt (Uh. Ganz schlimme Metapher.) Und in diesem Jahr besonders. In dieser Saison bin ich Pokaltourist.
Und den Anfang macht: Die erste Runde im DFB-Pokal. FC Oberneuland gegen Borussia Dortmund. Zuerst lautes Geschrei und Getöse und bei der Verlesung der heimischen Elf dann fragende Gesichter. „Reus!“, is klar. „Krogemann“, hä?
Und so stürmen die bekannten Namen nach dem Anpfiff wie selbstverständlich. Die Unbekannten sehen aus wie Sparringspartner. Hier prallen Profis auf Amateure … oder Halb-Profis, wie die Jungs in Rot-Weiß schmeichelhaft genannt werden.
Oberneuland ist jene Ecke in Bremen, in der sich Werder-Spieler normalerweise Häuser kaufen. Ein schöner Fleck, aber da spielt man doch nicht. Der Stadtteilclub hat es trotzdem in die erste Runde des DFB-Pokals geschafft. Aus der Regionalliga-Nord. Und zwar über den Lotto-Pokal. Solche „kleinen“ Pokale gibt es in jeder Region des Landes. Im Grunde die Qualifikation für den „großen“ Pokal.
Von Drittligisten bis zu Kreisligisten treten die Vereine des jeweiligen Verbandes an und spielen ihn aus. In Bremen den Lotto-Pokal, in Bayern den Toto-Pokal, im Rheinland den Bitburger-Pokal, in Sachsen-Anhalt den Krombacher-Pokal. (Im Ruhrpott den Evonik-Pokal?) Und so weiter und so weiter.
Und dann spielen sie doch, die Namenlosen des FC Oberneuland. Sie leisten Widerstand gegen Reus, Subotic und Blaszczykowski. Namen, die mit der Stimme von Béla Réthy im Ohr noch von der EM nachklingen. Aber was heißt das schon? Nach fünf Minuten steht es noch Null zu Null.
Ist das ein Aufbäumen? Der Underdog gegen den klaren Favoriten.
Mit Händen und Füßen bewahren die Ungehörten den Ball davor ins Heim-Netz zu gehen. Obwohl: „Heimat?“ Neben uns sitzt ein Bremer, der seinem Kumpel – einem Dortmund-Fan, im entsprechenden Outfit – die Karten geschenkt hat. Den FC Oberneuland kannte er bis heute nicht. Eigentlich ist er immer für Hannover. Tz, diese Bremer.
Erkennen die denn die Chance nicht? Die einmalige Chance dem Bundesligameister ein Bein zu stellen. Das Glück ist doch bekanntlich mit den Mutigen, den hoffnungsvollen Streitern.
Die Tatsache das hier sprichwörtlich David gegen Goliath kämpft, lässt mich wundern: Ist der DFB-Pokal vielleicht eine letzte Bastion des fairen Spiels? Die letzten Möglichkeit mit hartem Einsatz, Kampfeswillen und unermüdlicher Aufopferungsbereitschaft den Riesen zu schlagen? Eine Möglichkeit Herz über Gehälter siegen zu lassen?
Nein. Ist er nicht.
Im Profi-Fußball geht es, wie bei jeder anderen Sache die mit „Profi“ anfängt, um Geld. Und der DFB-Pokal ist da keine Ausnahme. Dabei sieht er von weiter weg doch so demokratisch aus. Und so spannend.
Zum Beispiel, weil in der ersten Runde auch ein Fünftligist auf einen Bundesliga-Verein treffen kann. Aber das ist alles andere als ein Beweis für Fairness, Ausgeglichenheit oder gar demokratische Zustände.
Große Vereine (die eigentlich keine Vereine mehr sind) profitieren davon, wenn kleine Vereine nicht sterben. Klingt doch ganz nett, oder?
Irgendwie humanistisch. Liebevoll. Sogar fürsorglich.
Aber: Große Vereine (FCB, BVB, HSV … eben all die bekannten mit drei großen Buchstaben) profitieren nicht (!) davon, wenn kleine Vereine groß werden!
Wenn kleine Vereine sterben, sterben damit auch dutzende Anlaufstellen für junge, potentielle Fußballtalente. Die breite, deutsche Vereinsbasis (nicht nur im Fußball), nimmt jene Arbeit vorweg, von der später ein Götze im BVB-Kader profitiert. Von der der BVB profitiert. Die Begeisterung für Fußball. Die erste Prägung durch Grundkenntnisse, Spielfreude und Talententwicklung. Überhaupt: Talenterkennung passiert auf den ländlichen Fußballplätzen doch schon im Vorschulalter. Dann wenn die U12 vom SV Angermünde gegen die U12 der Spielvereinigung Eberswalde II spielt.
Deswegen dürfen in der ersten Runde DFB-Pokal auch gleich mal alle Vereine unterhalb der zweiten Liga, gegen Profi-Vereine (Vereine mit hauptberuflichen Fußballern) aus der zweiten und der Bundesliga spielen. Erste und zweite Liga sind natürlich auch von vornherein für den „großen“ Pokal qualifiziert. Kein Aussortieren hier.
Egal. Die Paarungen Groß gegen Klein bringen Geld in der Kassen der kleinen Vereine, jedenfalls genug um wenigstens eine weitere Saison zu überleben. Und ein bisschen Show bringen sie auch.
Viele kleine Vereine krebsen irgendwo zwischen unbedeutend finanziert oder chronisch unterfinanziert und am Existenzminimum. Kein Verein, der seine erste Herrenmannschaft in der Regionalliga hat, kann große Sprünge machen. (Mal abgesehen von „Rasen-Ballsport“ Leipzig. Wahrscheinlich hat deren beständige Weigerung aufzusteigen, etwas mit dem Dauerkonsum eines gewissen Energiedrinks zu tun.)
Okay. Also kassieren die kleinen Vereine ein bisschen Geld in der ersten DFB-Pokalrunde. Auch weil sie immer Heimrecht haben.
Im Gegenzug ermöglichen die schwachen Gegner den großen Vereinen das quasi sichere Weiterkommen. Was die großen Vereine natürlich nicht gebrauchen können, ist noch mehr Konkurrenz in den Profi-Ligen. Kleine Vereine sollen klein bleiben. Immerhin gibt es nur achtzehn Tabellenplätze in der Bundesliga.
Und so überleben die erste Knock-Out-Phase, statistisch gesehen, auch eher Profi-Vereine. Natürlich!
Es gibt zwar immer wieder Ausbrüche, und ein paar kleine Vereine schaffen es in die zweite Runde, aber Weisheiten wie „Der Pokal hat seine eigenen Gesetze.“ (Otto Rehagel), sind bei genauerem Hinsehen nicht mehr als ein Mythos. Nicht wahr, weil nicht bewiesen.
Und von eben jenem Mythos lebt das Event „DFB-Pokal“.
Doch schaut mal mal genau nach, war das letzte Mal, dass ein unterklassiger Verein, oder ein Regionalliga-Verein, oder ein Verein aus der dritten Liga den DFB-Pokal tatsächlich gewonnen hat … niemals. Der DFB-Pokal wird von Profi-Mannschaften gewonnen. Erste und zweite Liga. Keine Ausnahme.
Doch die Überlegungen zum Thema Fairness, Demokratie, Chancengleichheit etc. sind allerdings vollkommen und absolut egal, wenn man erst einmal im Stadion sitzt und sich den FC Oberneuland gegen den Double-Sieger Borussia Dortmund anguckt.
Als Zuschauer hat man ein unerklärliches, kaum beschreibbares Bedürfnis nach dem Kampf „Gut gegen Böse“. Klein gegen Groß. Man will die Möglichkeit, ja die beinahe Sicherheit des Scheiterns im Nacken spüren, damit es spannend ist. (Außer natürlich man gehört – wie fast alle an diesem Samstag in Bremen – zur Fan-Gemeinde des BVB. Elterliche Prägung oder Standortidentifikation schlägt Mythos. In jedem Fall. In diesem Fall: Drei zu Null.)
Der DFB-Pokal garantiert immerhin, und das spricht für den Schauwert, Tore. Im K.O.-System muss es einen Gewinner geben. Keine Null-Nulls, wie in der Gruppenphase der Champions-League. (Da freut man sich auf Schalke gegen Tel Aviv, nimmt sich den Abend frei, kauft Bier, justiert die Zimmerantenne exakt und macht Schnittchen – und am Ende ist nicht ein Tor gefallen. Nicht ein Tor! Und Schalke kam trotzdem weiter. Tz.)
Wieder in Bremen: Nach knappen zehn Minuten immer noch kein Tor für die Gäste. Großartig. Die Möglichkeit der Sensation liegt in der Luft. Jede Sekunde ohne einen Gegentreffer, ist wie ein kleiner Sieg für die Oberneuländer. Beherzt wehren sich diese Halb-Amateure, äh … Profis weiter gegen die gelben EVONIK-Profis. Es macht Spaß hier zuzusehen. Ein paar Mal kommen die Oberneuländer sogar in die Hälfte des BVB. War das da eben etwa ein Torschussversuch? Kann das Märchen hier wahr werden? Ja, vielleicht – – – Peng. Nein! Null zu Eins. Puff. Spannung reus … äh raus. (Tschuldigung.) War ja klar. Aber für einen Moment gab es Hoffnung, Spannung. Sympathie für den Überforderten, den Unterlegenen. Nach der elften Minute dauert es dann nur bis zur achtunddreißigsten Minuten, und alles ist klar. Zwei zu Null und nach der Pause Drei zu Null.
Nach dem finalen Tor erschlägt mich das Bremer Haake Beck, wie das Ergebnis die Oberneuländer. Eigentlich war ja doch alles von vornherein klar: Keine Chance. Aber man hatte halt gehofft. Und „Null zu Drei“ ist auch nicht sooo schlecht. Hätte schlimmer kommen können.
Die Fernseheinnahmen bringen dem kleinen Verein 200000 Euro. Überleben für eine weitere Saison gut gesichert. Vielleicht springen sogar neue Trikots für die U12er raus. Ein „Win-Win“?
Das Duell „Klein gegen Groß“ geht mit erschütternder, statistischer Wahrscheinlichkeit immer positiv für den Großen aus. Was es so spannend macht, und den Kleinen kämpfen lässt, ist eben das es nur eine Wahrscheinlichkeit ist. Genau jene Unschärfe, in der eigentlich klaren Rollenverteilung, hat Berlin AK 07 – anders als der FC Oberneuland – an diesem Samstag genutzt. Und deswegen guck ich mir den in der zweiten Runde an. Ich kann das Hoffen nicht lassen.
(Hu. Und am Ende noch mal knapp an nem schlechte Wortwitz vorbeigeschrammt.)