HARLEKIN POST (031) Bipolar

Sonntagmorgen. Verspielte Sonnenstrahlen brechen, wie ungezügelte Jungpferde, durch die frisch-geputzten Scheiben und tanzen mir auf der Nase. Es kitzelt, ich muss niesen und wache freudig auf.

Okay. Das war gelogen.
Mit bitterem Geschmack im Mund (Warum hab ich gestern, nach zwei Sekt und nem Beck’s, eigentlich ein Schultheiss getrunken?) und Schnupfen, wache ich auf und huste erst mal den Schleim meiner Erkältung ab. Es ist kalt im Zimmer. Die Heizung geht nicht richtig. Scheiße. Ins Bad. Wer ist das? – Früher dachte ich mal, dass man Augenringe stolz, wie Medaillen für „Best Work-a-holic of the Year“, tragen kann. Kann man nicht.

Mit flinken Füßen trippel ich die Treppe bis zum Briefkasten, fische mir ein Potpourri an unterschiedlichen Sonntagsausgaben verschiedenster Zeitungen heraus (u.a. „Das Intellektuellen Tagblatt“, „Schlau Heute“ und „Informierte Berliner“) und bin gerade rechtzeitig am Küchentisch, als der 15€-für-250g-Fair-Trade-Bio-Kaffee durch das chlorfrei gebleichte Recycle-Papier des Filters gelaufen ist. Nachdem ich mir genügend Zeit genommen habe, um Weltnachrichten, Finanz-Kritik und Politische-Dossiers zu lesen, stoße ich auf den Feuilleton – der in jeder, der schlauen Zeitungen, natürlich fast ausschließlich aus Opern-Rezensionen besteht und immer ganz schlicht nur „Kultur“ heißt.

In der Realität schippe ich den Großteil des ja!-Kaffees neben die Kaffeemaschine, trinke ausschließlich stark mit Discounter-Milch gepanscht und nehme so, hustend und schniefend, vor meinem Laptop platzt. Die spiegel-online-Meldungen zu irgendwas mit CSU sehe ich gar nicht. Dafür: Gestern war also „Wetten dass..??“. Aha. Mir doch egal. Oder? Eine Sekunde: War peinlich, wa? Geil. Klick.

Elf Millionen Menschen haben ihren Samstagabend dem zweiten deutschen Fernsehen geopfert. Wahrscheinlich der Grund, warum sich SPIEGEL, WELT, FOCUS und natürlich auch die BILD mit Nachbesprechungen überschlagen. Mal geht es um das Chaos, mal um die „Hollywood“-Stars, die nicht zurecht kamen oder alles zu lang fanden, mal geht es um Cindy aus Marzahn.
Ja. Wirklich. Um Cindy aus Marzahn.
Ich schreib das noch mal, weil ich es selber nicht glauben kann: Um Cindy aus Marzahn.
Und dabei war sie nicht mal da. Sondern hatte Rückenschmerzen. Vielleicht vom vielen vorne über beugen. Wenn man im Arsch von RTL und ZDF und wem noch alles steckt, passiert so was. (Gossip. Gossip.)
Jetzt ist anscheinend ein Kampf um Cindy ausgebrochen.
Sekunde. Das muss ich auch noch mal schreiben: Ein Kampf um Cindy aus Marzahn.
Damit ich das nicht vergesse: Das ZDF war damals schon an der Gründung von ARTE beteiligt, oder? Obwohl: Die machen ja auch das Weihnachtsfest der Volksmusik und den Fernsehgarten. Okay. Ich nehme alles zurück.
„Uralt“ und „Billig“ streiten sich um „Zum kotzen“. Hey, wenigstens hat spiegel-online was zu schreiben. Und ich darf mich gebildet fühlen, weil ich diese „Nachrichten“ ja lese. Ohne Video, und so. Nachrichten. Tz. Dieses Wort. Nach richten. Das will ich nicht. Auf keinen Fall.

Für mich war der Feuilleton immer das Sahnehäubchen. Schwere Themen in Politik und Wirtschaft, Banales und Persönliches im Lokalteil, Entnervendes und Großartiges im Sportteil und Erhebendes im Feuilleton. Dies kann ein Streit sein, eine Besprechung, vielleicht eine Auseinandersetzung zweier Journalisten, oder mit einem Philosophen (siehe R.D. Precht – arrogante Sau. Wann kommt das neue Buch nochmal als Taschebuch raus?), oder die Kritik. Aber wenn die Kritik zum Dauerläufer wird, wenn „Hollywood“-Stars (Warum setzt man das eigentlich davor? Und warum in Anführungszeichen?), als Referenzen der eigenen Fassungslosigkeit herangezogen werden, wieder und wieder … liebe spiegel-online-Redaktion. Es reicht. Dann guckt den Scheiß eben nicht.
Aber nicht diese bipolare Haltung. Dieser gierig, geifernder und doch tadelnde, lachend-gackernde Gaffer-Blick. Einfach mal aufhören.

Die Amis kriegen das ja auch hin. Am Dienstag ist Wahl, dann ist Schluss. Und der ganze Wahlkampf hat nur … plus/minus zwei Jahre gedauert.

Ich will das nicht, ich will das doch.
In großen Mengen liest man in den Zeitungen und auf den Online-Portalen lange Artikel über den Schrott, der sich anscheinend Fernsehen nennt. Ich selber bin da nicht besser. Am Sonntagmorgen hab ich mir dann gleich bei YouTube die Jo-Jo-Wette angesehen. Bis ich es nicht mehr ausgehalten habe. Vor allem weil Forrest Gump so erschüttert aussah, und schlecht geschauspielert hat er auch.

Peinlichkeiten von bekannten Prominenten, Streitereien zwischen Sendern, die Abwesenheit einer … Person … bei einer Fernsehshow. Das sind alles Dinge, die sich einfach konsumieren lassen. Sie gehen nie zu tief und weil sie so weit weg sind, erreichen sie uns nicht. Das ist beruhigend.
Außerdem sind Schadenfreude, Hohn und Spott Balsam für die offenen Wunden der eigenen Angst. (Hui. Der Satz war aber schön.)
Wenn ich von den Feuilleton-Seiten weiter blättere, und bei den Berichten über Simbabwe lande, werde ich nachdenklich. Wenn ich Artikel über Abschiebegefängnisse an deutschen Flughäfen lese, werde ich sauer. Wenn ich lesen muss, dass Steinbrück Kanzlerkandidat ist, frag ich mich warum ich wählen gehen soll und was aus Morgen wird. Dann muss ich mich erst mal mit mir selbst beschäftigen. Das ist nie einfach.
Aber vielleicht ganz heilsam. Ich habe, zum Beispiel, diese Woche den wunderbaren Film „Ruby Sparks“ gesehen. In dem Film geht es um einen Autor, der eine Liebesgeschichte schreibt und das Mädchen daraus wird lebendig. Es geht um die eigenen Vorstellungen an einen Partner. Und ob der perfekte Partner – auf Tastendruck – vielleicht im ersten Moment perfekt wäre, aber irgendwann dann doch nicht mehr. Vielleicht bin ich alleine, nicht weil es den perfekten Partner nicht gibt, sondern weil ich ihn mir wünsche und in Gedanken und Schrift erschaffe.
Die selbstkonstruierte Wirklichkeit im Kontrast.
Ich habe außerdem das ansehnliche Foto-Buch „Ice: Portraits of Vanishing Glaciers“ gelesen und eine Reportage dazu gesehn, in dem der Fotograf James Balog den Rückgang der Eisberge an den Polkappen dokumentiert. In der exzellenten Talkshow „Real Time with Bill Maher“ wurde dann darüber diskutiert, dass die Menschheit die globale Erwärmung überhaupt nicht mehr aufhalten kann. Egal was wir jetzt auch tun würden, der Effekt würde erst in knapp 100 Jahren eintreten. Wie hilflos man sich da fühlt. Und soll ich deswegen aufhören alle Standby-Geräte in der Wohnung von den ausschaltbaren Steckerleisten zu nehmen? Was heißt Verantwortung für mich?
Erstmal: Ein klein bisschen mehr in die Auswahl der Nachrichten zu investieren. Auf die Überschriften zu scheißen und stattdessen keine Angst vor mir selbst zu haben. Harter Tobak.

Nächsten Sonntag ist meine Erkältung hoffentlich ausgestanden. Dann werde ich vielleicht nicht von Sonnenstrahlen geweckt, aber möglicherweise hab ich bis dahin 6€ für den normalen Fair-Trade-Kaffee ausgegeben und auch diese Milch in den grünen Tetra-Packs gekauft, die die zehn Cent pro Liter direkt an die Erzeuger zurückführt. Das erste was ich dann tue, ist Bruno Mars zu hören. Und ich werde mich nicht dafür schämen, dass mir diese Scheiß-Popmusik, richtig gut gefällt. Und mehr ist dazu nicht zu sagen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.