HARLEKIN POST (042) Volkssport

Ich bin seit jeher skeptisch gegenüber Massenbewegungen. Da bin ich sehr undeutsch.
Ich war einmal auf der Love-Parade, einmal auf dem CSD und einmal am FKK-Strand. Dort hab ich überall mehr gesehen als ich wollte und fühlte mich weniger akzeptiert als ich wohl sollte.
Ich gehe regelmäßig in Fußballstadien, dort schüttel ich jedes mal den Kopf über Fanblocks. Ich verabscheue Betrüger genauso wie jeder andere, hab am Ende aber trotzdem zu Guttenberg gehalten. Ich mag Underdogs und Loser.
Deswegen bin ich auch tierisch inkonsequent: Ich war auf Demos für mehr Lehrer und weniger Atomkraft. Bei Länderspielen schrei ich den Fernseher an und freu mich über Blutgrätschen gegen Cristiano Ronaldo. Ich wähle ein Volkspartei und trage die meistverkauften Sportschuhe der Welt. Ich hab alle „Fast & Furious“-Teile gesehen, mehrmals. Und den ersten Transformers-Film kann ich mitsprechen.
Ich bin die Masse. Und ich bin nicht die Masse.
Letzteres besonders wenn es ums Fernsehen, Filme und Videos geht.

Im letzten halben Jahr, wahrscheinlich im letzten halben Jahrzehnt oder gar im letzten halben Jahrhundert, haben sich die deutschen Kritiker des Fernsehens und des Kinos hinter einer Front vereinigt:
Alles wird schlechter. Fernsehen sucks! Und: In Deutschland besonders.
Eine Vielzahl an Kritiken, Blogs und Zeitungsartikeln überschwemmen mit immer der gleichen, weichgespülten Botschaft die Kanäle und verstopfen mir Augen und Ohren.
Aber jetzt ist Schluss!
Mit der Schärfe einer Kultur-Pessimisten-SS und der Eindringlichkeit einer Beleidigten-Gestapo. Die Masse der Kritiker-Nazis schlagen um sich. So sehr: Mittlerweile gibt niemand den ich kenne mehr zu: Ich gucke Fernsehen.
Besonders Leute die Fernsehen machen, sagen: „Nee. Ich guck kein Fernsehen. Und wenn, dann nur 3Sat und Arte.“
Das ist so wie die Szene aus „Mein Führer“, in der sich Hitler den jüdischen Schauspiel-Lehrer Grünbaum bringen lässt, weil der ja ein „Talent“ hat.
Dieser Jude ist gut, den Rest: Weg damit!
Oh. Die Nazi-Fernsehen-Vergleiche gehen zu weit? Fuck you, ihr political-correct-Heuchler. Ihr applaudiert, wenn bei „Braking Bad“ ein Lehrer Crystal Meth – die zerstörerische Droge aller Zeiten – vertickt, aber mit Nazis darf euch niemand vergleichen. Scheiße. An der ein oder anderen Stelle unseres Lebens sind wir alle Nazis.
Das Fernsehen zu hassen ist Volkssport in diesem Land. Und Volkssport betreiben wir gerne.

Natürlich sind Programme wie „Familien im Brennpunkt“ oder „Berlin Tag & Nacht“ furchtbar. Aber wer einmal „The Real Housewives of Beverly Hills“ gesehen hat, der sieht die faustische Genialität der neuen Folgen „Germanys Next Topmodel“.
Was der präsenten und der sonstigen deutschen Fernsehkritik fehlt sind … Eier!
Genau. Richtig melonengroße, haarige Eier. Mut. Chuzpe.
Jeder Artikel über die deutsche Fernsehlandschaft beginnt und endet mit Entrüstung. Alles ist sooo schlecht. „Nee. Also dafür will ich meine Rundfunkgebühren nicht ausgegeben sehen.“
Dabei gibt es viele großartige Sendungen, Filme und Videos (auch im Netz). Aber über die wird nur in Nebensätzen geschrieben, während im Hauptsatz gestöhnt wird.
Über den grandiosen Versuch einer obskuren Comedy-Serie, den das ZDF mit „Lerchenberg“ gestartet hat, wurde immer nur im Zusammenhang mit dem „so furchtbaren Sendeplatz“ geschrieben. (Wenn überhaupt mal geschrieben wurde.) Die beeindruckend-unterhaltsame Talkshow „Roche & Böhmermann“ hat man nicht unterstützt, sondern erst beachtet, als sie schon abgesetzt war. Die Kritiken beschäftigten sich mehr mit Günther Jauch und „wie schlecht wieder alles war“. Oder das „Wetten dass..?“ mit Lanz nicht funktioniert. (Ist doch klar! Es ist Markus Lanz! Da kann man genauso gut fragen: Warum schmeckt Styropor so trocken?)
Dabei laufen dutzende Formate (z.B. die heute Show & Extra-3) die auch ein großes Publikum ansprechen und nicht an Bissigkeit verloren haben.
Und dann beschweren sich immer alle Kritiker über das deutsche Kino.
„Oh Boy“ haben sie auch immer nur im Kontext von: „Warum sind nicht alle deutschen Filme so?“ Weil nicht alle fucking, deutschen Filme ein Schwarz-Weiß-„Manhattan“-Aufguss sein können. Verdammte Zucht!
Sicherlich: „Schutzengel“, „Kokowäh 1 bis 11“ und „Der Baader-Meinhof-Komplex“ waren Grütze. Aber als Dani Levy mit „Mein Führer“ eine der besten Komödien aller Zeiten drehte, fragten die Kritiker nur: Darf man das? Uh. Hitler. Der darf doch als Mensch nicht lustig sein. Pfui!
Aber dann aufstehen und Bruno „talentlos “ Gans als Hitler-Abklatsch zujubeln. Da war ja Harald Schmidt als Hitler glaubwürdiger und weniger Klischee.

Der Fernseh- und Medienkritiker Thorsten Dewi hat jetzt einen Abschiedsbrief ans Fernsehen geschrieben. Ans deutsche Fernsehen natürlich. (Weil das französische Fernsehen sooo geil ist. Da mal versucht eine ordentliche Nachrichtensendung, oder eine Show zu finden? – Ist auch nicht alles ARTE im Land von Alexandre Dumas! Musketiere am Arsch.)
In dem Brief also, macht Dewi mit dem deutschen Fernsehen Schluss. Vielen Dank auch. Tolles Bild. Wirklich. Diese formvollendete Sprachgewandtheit – hinreißend.
Thorsten will jetzt mehr mit „on-demand“ machen. Das ist so, als würde man nach einer langen Beziehung mit einem Flugzeugträger, auf ein Ruderboot umsteigen.
Äpfel & Birnen, mein Lieber.

Ich sehe das eher so: Fernsehsendungen sind wie Frauen. Nur weil mal eine dabei war, die scheiße war, mir das Herz gebrochen hat, mich betrogen und belogen hat, schrei ich doch nicht gleich in die Welt: Nie wieder Frauen!
Erstens: Das glaubt sowieso niemand. Und zweitens: Deswegen gibt es doch so viele Frauen (beziehungsweise Fernsehsendungen!). Damit man sich ausprobieren kann (z.B. mit Olli Dietrichs „Frühstücksfernsehen“ … ist ne nette Flirt-Beziehung. Nicht zu ernst … eher casual) … dann die Hörner abstoßen … (mit den MILFs „Maybrit Illner“ und Sandra „Maischberger“ … bis man merkt: Vielleicht sind die zu alt … oder ich noch zu jung, wenn auch nur gefühlt) … dann probiert man vielleicht mal ne dauerhafte Beziehung … (mit „Türkisch für Anfänger“ oder „KDD“) … allerdings werden die dann auch abgesetzt. Und schließlich landet man bei der Richtigen. Die richtige Beziehung, die große Liebe … vielleicht ganz nah … dort wo man sie nicht vermutet hätte. Vielleicht schon immer da gewesen.
Ich habe einen Kumpel der ist seit Jahrzehnten der „Lindenstraße“ treu. Kehrt jeden Sonntag zu ihr zurück. Am Samstag schläft er mit der „Sportschau“ und gelegentlich am Sonntagabend mit dem „Tatort“. Immerhin: Polygamie ist mit Fernsehsendungen möglich. Man muss nur wissen: Wann hol ich mir was und wo!
Mal bin ich Masse. Mal eben nicht.

5 Gedanken zu „HARLEKIN POST (042) Volkssport

  1. Alex

    Wenn ich zwei Mal überlege, jepp.^^

    Ich muss zugeben, ich kam über die Verlinkung im Wortvogel-Blog hierher, und meine ersten Gedanken waren: „Krasser Tobak!“ und eben „Nazi-Tourette!“

    Aber ich hab mich dann noch ein bisschen hier aufgehalten – und ehrlich: Ich mag dein Blog!

  2. SebastianBelisa

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