Ohne sein typisches, viel zu lautes „Ahhhh“ nach dem ersten Schluck aus einem kalten Bier, stellte er die Flasche fasst passgenau auf das kreisrunde Schöfferhofer-Logo des quadratischen Bierdeckels. Er trank Becks, natürlich. Aber seine Gedanken waren nicht beim Bier, nicht beim kreisrunden Schöfferhofer-Logo, nicht bei der Ansprache die er noch vor zwei Wochen gehalten hatte, vonwegen das man auf einer blank polierten Theke eigentlich überhaupt keine Bierdeckel braucht.
Seine Gedanken waren nicht mal in dieser Kneipe.
„Alter. Du siehst beschissen aus.“
Sascha ließ sich neben ihn auf den Barhocker fallen und nahm sich seinen Jägermeister. Sascha bestellte immer einen Jägermeister. Zu jedem Bier. Ihm war schon oft der Gedanke gekommen dass Sascha wahrscheinlich Alkoholiker war. Jetzt nicht mehr. Jägermeister gehörte einfach zu Sascha, wie die strubbeligen Haare, die dunkelgrünen Augen und die kleine Narbe auf dem Kinn, die er sich als Kind am Beckenrand im Schwimmbad eingefangen hatte.
„Wie meinst’n das, beschissen?“, fragte er Sascha. Sascha zuckte mit den Schultern.
„Ich bin eben so vom Klo zurück gelaufen und da dachte ich mir: Was heute Abend wirklich hier nicht reinpasst … bist Du. Was is’n los?“
Um die Antwort zu umgehen trank er schnell noch einen Schluck. Das Becks schmeckte schal, irgendwie zu bitter und sonst nach nichts.
„Na?“, forderte Sascha seine Antwort ein.
„Ach.“
Für einen kurzen Moment dachte er über die Möglichkeit nach, sich mit Sascha für Stunden nur mit Zwei- oder Drei-Buchstaben-Worten zu unterhalten. Auf ein „Ach“ würde ein „Wat?“ folgen, dann ein ablehnendes „Nee“, ein aufforderndes „Hm?“, dann ein „Tz“ um das Thema zu wechseln, mit einem „Da“ würde man in Richtung des Fernsehers deuten, dann mit kopfschüttelnden „Ph“s und „Sch“s die Ergebnisse der zweiten Liga vom Sonntag kommentieren … es könnte ewig so weiter gehen. Stattdessen sagte Sascha:
„Los jetzt! Jetzt bock nicht.“
Er musste grinsen.
„Okay.“, sagte er und nahm noch einen Schluck Becks um sich zu sammeln. „Ich hab’ Dir doch von diesem Mädel erzählt …?“
„Die mit dem dritten Nippel?“
Für einen kurzen Moment schien es ganz still in der Kneipe. Der Barkeeper drehte sich zu ihnen herum.
„Was? Welcher dritte Nippel?“ Es war ihm peinlich. Sascha grinste breit.
„Schon gut. Dieses Mädel also …“
„Ja.“, begann er erneut und Barkeeper und Lautstärke der Kneipe kehrten wieder zu ihren gewohnten Beschäftigungen zurück. „Dieses Mädel das ich kennen gelernt habe. Ich glaub ich mag die.“
„Shit.“ Sascha sah ihn wirklich erschrocken an. So erschrocken, dass er beschwichtigend die Hand hob.
„Nein, nein. Das ist gut. Das ist doch gut, glaube ich. Wirklich.“
„Nein, nein.“, unterbrach ihn Sascha. „Ich glaube ich hab zuhause die Kaffeemaschine angelassen.“
„Was?“
„Ja, ja. Aber … egal. Erzähl weiter. Wenn die Wohnung abbrennt, dann ist das schon passiert.“
Er sah Sascha entgeistert an. Manchmal wusste er einfach nicht wie er mit diesem Typ umgehen sollte.
Sascha leerte derweil sein Bier im ersten Ansatz zur Hälfte, dann sah er ihn auffordernd an: „Du warst gerade bei dem Mädchen das Du glaubst zu mögen…?“
„Äh, ja. Also: Erinnerst Du Dich an den Film Swingers, den wir vor ein paar Monaten nachts in der Kurbel gesehen haben?“
Sascha nickte. „Der mit dem jungen Vince Vaughn, wo wir uns noch gefragt haben wie man so krass zunehmen und hässlich werden kann?“
„Genau der. Da gibt es diese Szene in der Jon Favreau in einer Bar die Telefonnummer von dieser Frau bekommt. Er war seit Monaten nicht weg, kommt gerade aus einer langen Beziehung und er weiß nicht wie er mit all dem umgehen soll.“
„Ja, ja. Ich erinnere mich.“ Sascha leerte im zweiten Ansatz das Bier fast vollständig. Wahrscheinlich musste man schon ein Profi sein, um ganz genau immer die Pfütze in der Flasche zu lassen, die potentiell Spucke enthält und ungenießbar ist. Sascha war ein Profi.
„Gut, also.“, fuhr er fort, während er weiter Saschas beinahe leere Flasche musterte. „Jon kommt noch in der gleichen Nacht nach Hause, es ist kurz vor Vier oder so, und er überlegt was er machen soll. Aus irgendeinem blöden Grund, weil er unsicher ist oder so, ruft er bei der Frau aus der Bar an. Natürlich geht nur der Anrufbeantworter ran, er legt schnell wieder auf, dann überlegt er es sich anders, spricht doch drauf, schafft es seine Nummer nur halb zu hinterlassen, ruft noch mal an, entschuldigt sich, ruft noch mal an, versucht alles wieder hinzu biegen, und ruft dann noch mal an, um ihr zu sagen: Sie soll einfach alles vergessen was er drauf gesprochen hat. Genau dann geht sie schlaftrunken ran und sagt ihm er soll nie wieder anrufen.“
Sascha winkte dem Barkeeper und dieser brachte ein neues Becks und einen weiteren Jägermeister. Wie er den Jägermeister vor Sascha so stehen sah, merkte er wie es in seinem Bauch arbeitete: Vielleicht war es zuviel Alkohol die letzten Tage gewesen. Er hob die Hand und bestellte eine Cola.
„Cola, ja?“ Sascha sah ihn stirnrunzelnd an.
„Ja. Mir ist schlecht.“
„Wie gesagt: Du siehst beschissen aus. Hast Du nicht geschlafen? Ist dieses Mädel daran schuld?“
„Nein. Aber was meinst Du zu der Szene aus dem Film?“
„Klingt lustig.“
„Nein. Meinst Du nicht das die einem was sagen soll?“ Langsam wurde er ungeduldig. Sascha musste doch merken worauf er hinauswollte.
„Die sagt uns: Niemals nachts telefonieren.“
„Ach! Nein. Es geht um Unsicherheit, Du Idiot.“
„Und Du bist unsicher weil Du dieses Mädel vielleicht magst.“
„Ich glaube ich mag sie. Das ist ein Unterschied.“
Sascha schüttelte verächtlich den Kopf: „Ach, scheiß doch drauf.“
„Auf sie?“
„Nein. Nicht auf sie. Scheiß auf diese Kategorien. Scheiß auf „vielleicht“ oder „ich glaube“. Man mag oder man mag nicht. Und wenn man darüber nachdenkt ob man mag, dann mag man auf jeden Fall.“
Sascha setzte den neuen Jägermeister an, kippte ihn runter und Sascha entfuhr genau jenes „Ahhhh“, was er vorhin nicht fertig gebracht hatte.
„Wie kannst Du nur soviel trinken und dann noch solche Sätze sagen.“, fragte er Sascha. Sascha grinste.
„Ich bin ein Naturwunder. Prost.“
Sascha stieß mit seinem zweiten Bier gegen das unberührte Cola-Glas und nahm einen großen Schluck.
„Ich mag wie sie neben mir läuft, weißt Du.“
Der Satz war ihm einfach so rausgerutscht. Vielleicht weil er seit zwei Tagen darüber nachgedacht hatte, vielleicht weil er jetzt daran denken musste. Aber nun war er raus.
„Du magst wie sie neben Dir läuft?“, wiederholte Sascha fragend.
„Ja. Ich mag ihre Hand in meiner Hand. Sie ist nicht zur groß – also, sie als Person, nicht die Hand – so muss ich meinen Arm nicht anwinkeln. Sie ist nicht zu klein, so dass ich sie irgendwie hochziehen müsste. Nein. Es passt ganz einfach. Ich mag wie sie neben mir läuft.“
„Oh mein Gott.“
Sascha leerte auch sein zweites Bier und wischte sich – fast schon comicartig – über den Mund.
„Wenn Du mir jetzt auch noch von ihren Augen erzählst …“
„Ich fands toll wie sie mich am Wochenende, als wir uns in diesem Club verabredet haben, von der Bar aus gesucht hat. Ich hab mich extra noch etwas hinter dem Kumpel versteckt, mit dem ich mich unterhalten habe, damit sie noch weiter sucht. Der suchende Blick war … war …“
„War toll! Ja, ich verstehe. Hör mal zu:“
Wie, um seine Worte zu unterstreichen, drehte sich Sascha auf seinem Barhocker zur Seite und blickte seinem Gegenüber tief in die Augen.
„Bitte versprich mir nicht wieder durchzudrehen.“
„Darum ging’s doch in der Szene aus Swingers, deswegen- – -“
„Ja, ja, ja. Du kannst noch so viele Szenen zitieren, die Dir angeblich zeigen wie das abläuft, aber das heißt nicht dass Du irgendwas weißt. Fakt ist: Du bist nicht dafür gemacht mit Mädchen umzugehen.“
„Ach. Das ist doch- – -“ Diesmal unterbrach Sascha den Widerspruch mit einem erhobenen Finger.
„Das ist überhaupt kein Schwachsinn. Das ist genau so. Tut mir leid Dir das so sagen zu müssen, aber es stimmt. – Erinnerst Du Dich noch an Hannah in der zwölften Klasse?“
Kurz blitzte Unsicherheit in seinem Blick auf, dann nickte er.
„Ja.“
„Da hast Du Dich aufs Schuldach gestellt und geschrieen „Ich liebe Hannah für immer!“. Das war nicht nur total peinlich, es war der Anfang vom Ende. Nach den Sommerferien hat sie Schluss gemacht. Du erinnerst Dich?“
„Ja. Ich erinnere mich.“
„Na also. Dann hör auf mich. Ich find das ja gut, dass Du laut schreien willst …“
„Ich will überhaupt nicht laut schreien.“, versuchte er zu protestieren. Sascha winkte milde lächelnd ab.
„Doch, doch, doch. Du willst. Und das ist ja auch ganz süß.“ Er verzog das Gesicht und Sascha schmunzelte über seine eigene Bemerkung. „Die meisten wollen schreien, wenn sie verliebt sind. Das ist doch auch das gute dran, aber ich sag Dir: Wenn Du’s nicht versauen willst … schrei lieber lautlos.“
Für einen langen Moment sagte keiner etwas. Sascha blickte nur konzentriert seinem Gegenüber in die Augen. Schließlich merkten beide dass es an der Zeit war die Stille zu durchbrechen. Sascha drehte sich wieder zur Theke.
„Und jetzt nimmst Du auch einen Jägermeister.“
„Irgh. Nein.“, antwortete er und griff sich an den Bauch, aber Sascha hatte dem Barkeeper schon gewunken. Sekunden später standen zwei frische, bräunlich-dickflüssig gefüllte Schnapsgläser vor den Beiden. Sascha hob sein Glas an und deutete sein Prost nur an.
„Auf Dich.“
„Auf Dich.“, antwortete er Sascha. Dann kippten sie beide runter. Noch am gleichen Abend musste er sich übergeben. Er war einfach noch nicht so weit mit Sascha mithalten zu können. Sascha meinte dazu nur: Soweit muss man auch nicht sein.
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Zigarettendach
Er saß auf dem Dach eines Hochhauses, ließ die Beine über die Balustrade baumeln und blickte in die Ferne. Höhenangst war noch nie ein Thema für ihn gewesen. Er stand so fest auf einem Fenstersims im fünften Stock, wie auf der Bordsteinkante. Ein paar Minuten vorher hatte er zwei Pakete im achten und im vierzehnten Stock ausgeliefert, dann einfach den obersten Knopf der Fahrstuhlarmaturen gedrückt und hatte dann das abschließende Stockwerk mit einer Treppe überwunden. Jetzt war er ganz Oben.
Die Stadt lag in jener kaum greifbaren Kälte da, in der Städte immer kurz vor dem Herbst daliegen. Von Sonnenstrahlen wie dünne Gesteinsschichten durchzogen, sind die Straßen nie ganz ungemütlich zu bewandern, allerdings trägt niemand mehr kurze Hosen oder Flip-Flops.
Er mochte das Geräusch von Flip-Flops. Das Geräusch das die Flip-Flops seiner Freundin gemacht hatte, wenn sie durch den Hof zu seiner Wohnung im Hinterhaus geschlürft war. Er hatte sie schon gehört, bevor sie mit ihrem eigenen Schlüssel seine Wohnungstür öffnen konnte. Aber ihm wäre im Traum nicht eingefallen ihr durch sein Küchenfenster etwas zur Begrüßung zu zurufen. Sie war nicht die Art von Mädchen der so was gefiel.
Ihm ging durch den Kopf, dass er immer mit Mädchen zusammen war, die Sachen nicht mochten, die er unglaublich gerne tat oder tun wollte. Er war zum Beispiel noch nie mit einer Freundin in einem dieser alten Foto-Automaten gewesen, in die man sich hineinsetzt und sich dann vor der vier Mal knipsenden Kamera küsst. Er wollte so was schon immer mal machen. Er wollte den schwarz-weißen Fotostreifen dann in die Küche, neben die Postkarte „New York bei Nacht“, hängen, damit er noch etwas hatte was romantisch und spießig zugleich war, nur um zu beweisen das es ihm wirklich ernst mit der Beziehung war. Aber so was war ihm nicht vergönnt.
Mädchen die er toll fand, Mädchen mit denen er zusammen war, waren anders als so was. Sie waren unkonventionell und tranken lieber Tee, als Kaffee. Nicht wegen der Kaffeebauern, sondern wegen dem Raubbau an sich selbst durch Koffein. Mädchen mit denen er zusammen war, tranken kein Mädchen-Bier. Sie tranken nur exotische Biere, aus China oder Thailand. Sie tranken starke Biere, Guinness oder Ale. Sie nahmen auch keinen Zucker in ihren Tee, manchmal Kandis. Sie rümpften die Nase, wenn er Süßstoff nahm, weil ihn der chemische Geschmack so an diese roten supersüßen Kirschlimonaden erinnerte, die in diesen Weichplastikflaschen mit dem nur einmal abdrehbaren Korken abgefüllt waren.
Mit solchen Mädchen war er zusammen. Nicht mehr als eine Handvoll hatte es davon gegeben. Und er hatte jede Einzelne wirklich geliebt. Aber langsam zeichnete sich ein Muster ab. Seine Mutter hätte gesagt: Man gleicht sich in der Beziehung aus.
Er wollte aber auch mal der Andere sein.
„Hey!“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Er drehte um und hielt sich dabei instinktiv an der Balustrade fest. Eine junge Frau stand an der Tür zum Treppenhaus, welches aufs Dach führte. Noch hielt sie die Tür auf.
„Kann man die Tür vom Dach aus wieder aufmachen? Nicht das wir hier Oben am Ende ausgesperrt sind.“
Er nickte. „Ja, kann man. Die hat einen beidseitigen Schnapper.“
Warum hatte er das gesagt? Schnapper hörte sich so komisch ausgesprochen an. So ein Wort sagte man nicht, oder er nicht.
Sie nickte zurück. „Okay, gut.“
Sie ließ die Tür zufallen, griff sich in die Hosentasche und förderte eine Packung Zigaretten zutage. Langsam gesellte sie sich zu ihm, steckte sich eine Zigarette an und nahm schnell einen gierigen Zug, bevor sie ihm auch eine anbot. Er schüttelte den Kopf.
„Bist Du nicht hier Oben, weil Du eine rauchen wolltest?“
„Nein. Ich hab’ die Stadt noch nie von dieser Stelle aus gesehen.“, antwortete er. Sie nickte und er hatte tatsächlich das Gefühl sie verstand ihn.
„Paketjunge?“
Er sah sie irritiert an und sie nickte zu seiner braunen Uniformjacke mit dem Schriftzug über der rechten Brust.
„Ja.“
„Ich mag das.“
„Was?“
Sie lächelte. Ihm fiel auf, dass sie einen schiefen Schneidezahn hatte. Vielleicht war der Zahn auch abgebrochen, jedenfalls gab es eine Lücke, die wie ein auf dem rechten Winkel liegendes, rechtwinkliges Dreieck aussah, wenn sie die Zähne zusammenbiss. Ihre Lippen waren irgendwas zwischen dunklem Violett und gedecktem Rosa, damit passten sie sich aber nur der allgemeinen Blässe ihres Gesichtes an. Ihre Nase steckte unter einem sehr kontrastreichen Teppich aus Sommersprossen und ihre Augenfarbe war Nassgrün.
„Nassgrün.“, murmelte er.
„Wie bitte?“ Sie starrte ihn an, hatte seine Frage nicht beantwortet und stellte jetzt eine Gegenfrage.
„Du magst zusammengesetzte Wörter, oder?“
„Stimmt genau.“
„Deine Augenfarbe ist Nassgrün.“
Sie lächelte wieder.
„Kann man so sagen. Hat bisher noch keiner. Einmal sagte mein Freund, der jetzt mein Ex-Freund ist, sie sähen Dunkelgrün aus. Aber Nassgrün gefällt mir besser.“
Irgendwie machte ihn das stolz. Gleichzeitig zuckte er unmerklich und eher in Gedanken ein bisschen zusammen, als sie von ihrem Freund erzählte. Was hatte er mal von einer Freundin, die niemals seine Ex-Freundin war und nie sein würde, als guten Rat bekommen? Als Mann sollte man vor einer Frau nie zu lange über Ex-Freundinnen reden. Nun war die Situation hier wahrscheinlich nicht das, wovon seine Freundin damals gesprochen hatte. Sehr wahrscheinlich sogar nicht, aber trotzdem: Galten für Frauen andere Regeln als für Männer? Das war ihr sechster Satz, oder so, zu ihm gewesen und gleich sprach sie von ihrem Freund, oder Ex-Freund. Was wollte sie damit ausdrücken? Das sie unabhängig und selbstbewusst war? Niemand konnte sie lange halten, weil sie frei sein wollte und – – – er sollte sich nicht so viele Gedanken machen und sich lieber über das Kompliment freuen.
Er nickte ihr zu und lächelte, schmal zwar aber immerhin.
„Zigarettendach. Deswegen bin ich hier Oben.“, fuhr sie fort. „Jemand sagte, dass dieses Haus ein Zigarettendach hat und wir dürfen in den Büroräumen nicht rauchen, oder nicht mehr. Ich fand das Wort gut und ich bin nervös, weil dies mein erster Tag ist.“
„Was machst Du?“, fiel ihm nur ein.
„Ach. Was mit Zahlen.“
Er nickte und konnte so wenig mit dieser Aussage anfangen, wie sie beabsichtigt hatte.
Während sie zwei Mal kräftig an ihrer Zigarette zog, fuhr sie sich vorsichtig mit der rechten, unbeschäftigten Hand durch ihre schulterlangen, braunen Haare. Es sah danach aus, als hätte sie versucht die Haare mit einem Zopfband hinter dem Kopf lose zusammen zu binden, aber ein paar Strähnen waren entkommen und hingen nun wie Vorhangskordeln rechts und links rahmend neben ihrem Gesicht. Eine der Kordeln strich sie hinter ein Ohr. Vielleicht hingen die Kordeln aber auch absichtlich dort.
„Hast Du Höhenangst?“
„Nein.“ Sie schüttelte unterstreichend den Kopf und die Kordel rutsche in die alte Position zurück.
„Wieso fragst Du?“
„Du stehst so weit vom Rand weg, da dachte ich.“
„Ach so.“ Sie machte einen kleinen Schritt auf die Balustrade zu, wirkte aber nicht sehr glücklich damit.
„Vielleicht hast Du Recht. Wo soll ich eigentlich die Kippe hinwerfen, wenn ich fertig bin?“
Sie zog noch einmal an der Zigarette und die Glut hatte beinahe den Marlboro Light Aufdruck erreicht.
„Gibt’s hier irgendwo einen Aschenbecher? Hast Du einen gesehen?“
„Nein.“, sagte er und wollte schon den Kopf schütteln, dann nutzte er die angebrochene Geste um sich vergewissernd auf dem Dach umzusehen.
„Nein, kein Aschenbecher hier.“
„Kann ich die runter auf die Straße schmeißen?“
Er folgte ihrem angedeuteten Blick nach Unten.
„Kannst Du bestimmt“, begann er. „Aber ob das den Tag einer Person da Unten so gut beeinflusst, wenn die plötzlich Deine Kippe im Haar hat …“
Er ließ den Satz ausklingen und sah weiter stur nach Unten. Jetzt bloß nicht sie ansehen.
„Darüber machst Du Dir Gedanken?“, fragte sie und drückte die aufgerauchte Zigarette an der Balustrade aus. Er nickte und sah sie doch an. Sie lächelte.
„Lustig.“
Sie drehte sich um und rieb sich kurz fröstelnd die Arme, während sie zurück zur Tür zum Treppenhaus ging.
„Tschüss.“, sagte sie an der Tür angelangt. Es klang wie ein Schlagzeugtusch am Anfang eines Liedes.
„Tschüss.“, sagte er und dann: „Trinkst Du Kaffee?“
Sie stoppte in der Bewegung, mit der sie die Tür aufstemmte.
„Ja. Wieso? Willst Du mich einladen?“
Sie lächelte und erst jetzt fiel ihm auf das sie ziemlich klein und zierlich und unglaublich verletzlich neben der schweren Metalltür wirkte. Er konnte nicht bestreiten dass er das mochte.
„Nein. Jetzt noch nicht, jedenfalls. Ich muss weiter. Meine Tour machen.“
Sie verlor das Lächeln.
„Vielleicht an einem anderen Tag. Ich komm öfter hier vorbei. Welcher Stock?“
„Achter. Planung & Statik. Ich heiße Kathrin.“
„Hannes.“, sagte er und sie lächelte wieder.
„Bis dann, Hannes.“, sagte sie.
„Trinkst Du Deinen Kaffee mit Zucker oder mit Süßstoff.“, wollte er noch wissen. Sie lächelte breiter, ein bisschen Stirnrunzeln spielte nun mit ein.
„Äh … mit Zucker und Milch und manchmal auch Süßstoff.“
„Okay.“
Er sagte nichts, sie sagte nichts. Dann: „Okay.“ Und sie war runter vom Dach.
Er blickte noch einmal über die Stadt. Ein vereinzelter, durch ein paar Wolkenfetzen brechender Lichtstrahl traf ihn im Gesicht. Er blinzelte und dann wurde ihm wärmer. So kalt war es noch nicht. Noch kein Herbst. Mehr ausgehender Sommer. Sommerabschied. Abschiedssommer.
Er schnippte die ausgedrückte Zigarette von der Balustrade nach ganz weit Unten. Nicht immer so viele Gedanken machen, hallte es in seinem Kopf nach. Erst zehn Minuten später, bereits im Fahrstuhl nach Unten, machte er sich Vorwürfe.
Gunnar Patrick Modesohn ist schon lange tot
Dies ist kein Nachruf war das erste Buch was ich von Gunnar Patrick Modesohn gelesen habe. Das war zwei Wochen nach seinem Tod.
Die Geschichte handelt von einem Holzfäller der alleine im Wald seine Arbeit verrichtet und von einem Baum halb erschlagen wird. Im Übergang von Leben zu Tod verfasst er seinen eigenen Nachruf. Mit schwindenden Kräften kehrt er in die eigene Kindheit zurück und erkennt: Sein gesamtes Dasein war vorprogrammiert, er wusste nur nichts davon. Sich mit dem Schicksal auseinandersetzend wird klar: Es gibt keine Vergangenheit. Wir wissen es nur nicht, oder noch nicht.
Halbe Sachen, dass waren Gunnar Patrick Modesohns Geschichten. Geschichten aus einer Zwischenwelt. Niemals passierte etwas ganz, auch wenn es eigentlich nur ganz geschehen kann. Aus „erschlagen“ wurde „halb erschlagen“. Die Tat an sich passiert, nur die Auswirkungen lassen noch auf sich warten, oder: Unser Erkennen lässt auf sich warten. So habe ich seine Literatur kennen gelernt, nachgerückt.
Erfahren habe ich von ihm im Winter 2007 durch einen kleinen Artikel auf der Seite einer schwedischen Tageszeitung im Internet. Dort stand: „Gunnar Patrick Modesohn in Uppsala an einem Spielzeugauto erstickt.“ Ich hatte damals noch nichts von dem, in Literatenkreisen verehrten, Autor mit deutschen Wurzeln gehört. Die Überschrift machte mich neugierig. Im weiteren Verlauf des Artikels wurde der Polizeichef von Uppsala zitiert, der über die Umstände des Todes sagte: „Wer an einem Spielzeugauto krepiert muss irgendwas zu kompensieren haben.“
Tatsächlich war Gunnar Patrick Modesohn an einem roten Porsche 911 im Maßstab 1:55 erstickt. Wie es dazu kam ist relativ simpel: Zeit seines Lebens sammelte und ordnete Modesohn Spielzeugautos. Dies tat er auch in seinem Sommerhaus in Uppsala. Fast viertausend Autos soll er dort gehabt haben. Im Garten stand ein altes Schwimmbecken, mit Heizung, auch für die kalten Tage im Sommer. Unter dem Einfluss von, was die schwedische Presse als „unmenschlich viel Heroin“ bezeichnete, schmiss Modesohn alle seine Sammler-Spielzeugautos in den leeren Pool und sprang dann nach. Er tauchte nie wieder auf.
In knapp einem Monat erscheint nun sein letztes Werk. Endlich übersetzt aus dem Rumänischen von Bengt Jösensen. Es heißt: Sinnbildlich ausgedrückt und ist eine Reise in die verwinkelte Welt der Zeichen und Buchstaben. Modesohn beschreibt darin, typisch für ihn in einer Sprache die nicht seine eigene ist (er sich aber zu seiner eigenen gemacht hat), wie es die Buchstaben unserer Sprache, in unseren Zeitschriften und Büchern schaffen, sich aneinander anzulehnen, sich zu Gruppen zusammenzustellen um dann für uns ein Bild, ein Foto, ein Gesamtsymbol zu werden. Geradezu liebevoll nähert sich das kleine a dem kleinen n an, zusammen sind sie stark und „fast nicht wieder voneinander zu trennen“, wie Modesohn schreibt. Da ist es wieder: Dieser Zustand des halben, des noch nicht ganzen oder eben nur das „fast“.
Geboren wurde Gunnar Patrick Modesohn im kleinen Ort Drüsen, ganz in der Nähe von Mölln. „Drüsen war der Kesselraum für die siedenden Begierden meiner Jugend“, schrieb Modesohn 1989 in einem seiner ersten veröffentlichten Essays Heimatwanderwege um Mölln. Modesohn war damals einundzwanzig Jahre alt. Seine Jugend hatte er im Reihenhaus der Eltern als Einzelkind verbracht, umgeben von (wie er es beschrieb) „den einschnürenden Möglichkeiten die aufgeklärte und interessierte Eltern ihren grundlos wütenden, sich den Silberstreif ersehnenden Kindern bieten“. Mit Sechzehn schloss er die Hauptschule ab, wie damals schon von allen festgestellt: „Nicht aus Unvermögen, aus Unwillen.“ So sprach sein Klassenlehrer über ihn. Die Mutter, eine studierte Kulturwissenschaftlerin und nach Gunnars Geburt leidenschaftliche Hausfrau, drückte es 2008 in einem Interview mit der mare zum Erscheinen von Gunnar Patrick Modesohns Meersonaten so aus: „Gunnar war nicht dumm, er war sogar ausgesprochen begabt. Sprach fließend Englisch, Französisch und Polnisch. Aber er wollte, auf Teufel komm raus, sein Wissen mit niemandem teilen. Wir wussten nur das er all diese Sprache beherrschte, weil wir ihn dabei erwischt hatten wie er mit Andrzej Wajda telefonierte und sogar auf polnisch scherzte.“
Früh hatte sich eine enge Freundschaft zwischen dem älteren, polnischen Regisseur Wajda und dem noch jungen und gierigen Modesohn entwickelt. Sie trafen sich zum ersten Mal bei der Premiere von Wajdas Film Eine Liebe in Deutschland in Berlin. Aber Modesohn war nie einfach ein Schüler des deutlich älteren Mannes, Wajda war nie ein Mentor. Man schien auf Augenhöhe. Später schrieb Modesohn in seiner oft nachgedruckten Rezension von Wajdas Film Die Karwoche: „Andrzej ist in der Lage aus einer Geschichte auch den letzten Rest Falschheit heraus zu pressen und lässt das übrig, was alle Geschichten sind: Totes Leben. Aber das ist lebendiger, weil es das einzige Leben ist, dass keine Zukunft hat.“
Nach seinem gerade einmal ausreichenden Hauptschulabschluss verließ Gunnar Patrick Modesohn 1984 das Elternhaus und reiste nach Hong-Kong. In einem Brief an den Vater, der als Prüfer für das Finanzamt Mölln seinen Sohn immer mit dem nötigen Kleingeld ausgestattet hatte, schrieb Modesohn: „Papa. Ich verabscheue Dein Geld. Ich verabscheue Deine Sparsamkeit. Es ist doch nur ein temporärer Zustand. Nichts von Dauer. Geld ist nicht aus Stein. Bitte schick mir zweitausend Mark, ich will hier einige Zeit bleiben.“
In seinen drei Jahren in Hong-Kong schrieb Modesohn viele seiner Jahre später erst unter dem Titel Freificken von Gestern veröffentlichten Kurzgeschichten. Er kam ausgebrannt und mit der Syphilis Anfang 1987 zurück nach Mölln und erlebte in stiller Einsamkeit, im Kinderzimmer seiner Jugend den Mauerfall.
Nach dem die Grenzen offen waren zog Modesohn nach Berlin. Arbeit hatte er zu Beginn keine, schaffte dann aber die ersten Veröffentlichungen von Essays und Kurzgeschichten. Darunter auch die Geschichte Latenz, in der ein SS-Offizier durch ein Zeitloch zuerst nach Ost-Berlin 1968 fällt und später nach Bonn im Jahre 1990. Latenz wurde sowohl mit dem Kleist-Preis als auch dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Danach standen Modesohn plötzlich alle Türen offen. Drei Jahre schrieb er an seinem ersten Roman. Als 1994 Kann man auf Füße stolz sein erschien, hatte ihn die Fachwelt schon fast wieder vergessen. Aber eben nur „fast“. Der Roman erhielt überwältigende Kritiken und verkaufte sich hervorragend. Die Geschichte beschreibt den Weg eines jungen Mannes der von Mölln nach Berlin wandert und zwar barfuss und ohne Pause. Auf dem Weg, der durch zunehmende Schmerzen beschrieben wird und in denen Modesohn von der Kritik verbrieft die wohl „deutlichsten und erschreckend-wirklichkeitsnächsten Beschreibungen von physischen Schmerzen“ abliefert, begegnet der namenlose Protagonist nicht nur seinen Eltern immer wieder, auch sich selbst. Die zeitlich und räumlich verzerrte Reise endet mit blutigen Stümpfen wo einst die eigenen Füße waren. Füße die das selbst und das Selbstbewusstsein einer jungen Seele wie selbstverständlich tragen und nach und nach, durch Elternhaus und Selbstzweifel, abgerieben und am Ende abgetrennt werden. Zurück bleibt ein „Fußloser unter Fußlosen“, wie sich Modesohn in Berlin selbst beschreibt.
Gerade der kommerzielle Erfolg, vor allem in der Studentenszene Berlins, machte Modesohn schwer zu schaffen. In einem seiner wenigen Fernsehinterviews, als Gast der Talkshow 3 nach 9 gesteht er im Sommer 1995 Juliane Bartel: „Ich kann diese verwahrloste Gesellschaft nicht mehr sehen. Die mit ihren Büchern und ihren Zeitschriften wie Medaillen umherstolzieren. Ich würde sie am liebsten alle töten. Nein, streichen sie das. Ich würde sie leben lassen, aber dazu verdammen die Inhalte einmal wirklich zu verstehen. Jeder der die Inhalte einmal verstanden hat, läuft nicht mehr mit dem Buch vor dem Bauch umher. Nie mehr.“
Gequält von der Angst von der Masse verstanden und damit in seiner Aussage verwässert zu werden, zieht sich Modesohn 1996 nach Westdeutschland zurück und zieht – nach dem Tod des Vaters – wieder bei seiner Mutter ein. In der Folgezeit erscheinen eher sporadisch Werke von ihm, wie die Fabelsammlung Preisgekröntes Grimm-Märchen ohne Menschen, aber mit Tieren die sprechen. Die damaligen Werke, so ist sich später die Kritik einig, zeichnen sich vor allem durch sprachliche Aspekte aus. Seine Wortfindungen, -umdeutungen und –verklärungen werden überall in der geeinten Bundesrepublik aufgenommen und sogar darüber hinaus. In Polen erscheinen seine Werke in Sammelbänden und von ihm selbst übersetzt. Modesohn beginnt weitere Sprachen zu lernen. Rumänisch, Bulgarisch und sogar Chinesisch nimmt er sich vor und meistert schnell alle Hürden auf seinem Weg. Bis zu seinem Tod, so wird angenommen, lernte er vierundzwanzig unterschiedliche Sprache und konnte sich in fast allen mühelos und geschickt, mündlich wie schriftlich, ausdrücken. Doch die Zeit nach 1995 ist geprägt von einem deutlichen Rückgang seiner inhaltlichen Stärke. Sein Lieblingsthema, die „Zerrissenheit zwischen ganz und nicht, das halb“ (wie er in seiner Kurzgeschichte Ich bin die Hundeleine noch 1990 schreibt) verschwindet fast ganz aus seinen Erzählungen. Gipfel dieser Entwicklung ist der Veröffentlichung seines fünftes Romans Kataloge 2002, welcher zwar durch Sätze wie „Schlafend sind Kinder oft wach anzutreffen“ brilliert, allerdings eine einheitliche Handlung vollkommen vermissen lässt. Der Literaturkritiker Denis Scheck hat den Roman passend als „die Geschichte ohne Geschichte, die wie alle Geschichten ein Anfang und eine Ende haben will, aber weder noch besitzt. Das ist schon alles worum es geht.“ zusammengefasst.
Nach Kataloge bricht Modesohn dann aus. Er zieht nach Schweden, reist eine Zeit umher und lässt sich schließlich 2004 in Uppsala nieder. Hier schreibt er noch drei Bücher: Dies ist kein Nachruf, So viele Kreidefelsen und keine Tafel und Sinnbildlich ausgedrückt. Am 19. November 2007 wagt er dann den Sprung in das Schwimmbecken voller Spielzeugautos. Nachrufe werden von Verehrern und Kollegen auf der ganzen Welt verfasst und überall veröffentlicht. Doch kaum einer kennt die wahren Texte. Kaum einer kennt den wahren Gunnar Patrick Modesohn. Niemand wusste von seiner Drogensucht, von den Potenzproblemen nach der frühen Syphilis und den neurologischen Auswirkungen, die sich in krankhaftem Selbsthass und Hass auf den Vater zeigen. Einige Biographen behaupten auch, dass es in Kindertagen zu einer Vergewaltigung kam. Nichts davon lässt sich mit Fakten belegen.
Viele Autorenkollegen zitieren ihn gerne, entnehmen Wortkonstruktionen oder ganze Sätze seiner Bücher. Aber kaum einer hat ihn wirklich gekannt, kannte ihn persönlich.
In Andrezj Wajdas jüngstem Film Tatarak tritt in einer Szene ein junger, verstört vor sich hinblickender Mann auf. Er ist hager, erinnert in Statur und durch zerzauste Haare an die wenigen Bilder die von Gunnar Patrick Modesohn existieren. Der unbenannte Mann, der nur im Drehbuch als G.P.M. auftaucht hat nur drei Sätze, dann geht er wieder ab und kommt nicht zurück:
„Ich war nie ganz da. Ihr kennt mich nicht, doch liebt ihr mich. Sterbt nicht wie ich, oder doch, auf jeden Fall ist es euer Leben und es ist vorbei.“
New Rules
Vorausgesetzt es gibt einen allmächtigen Gott, und ich meine „allmächtig“ in dem Sinne dass er beim Urknall kurz geschnippt hat und seit dem entspannt auf einer Veranda in Oregon chillt. Also vorausgesetzt es gibt einen Gott, von mir aus Jahve, Allah, Jehova, nennen wir ihn der Einfachheit halber Bert, er würde das mögen.
Also wenn es Bert gibt, und er hat vor knapp 3000 Jahren einem alten Mann auf einem Berg die Hand geführt und ihm ein kleines Regelwerk, sozusagen den Brusttaschenkniggen für die kommenden Jahre, mit auf den Weg zu geben … dann wäre es in Zeiten von Reruns, Franchise-Neustarts, Remakes, Reloades und was nicht noch alles mit „Re“ anfängt, doch an der Zeit eine 2.0-Version eben dieser Regeln rauszubringen. Ein kleines Update, nur damit sich auch alle daran erinnern.
Natürlich klettert heutzutage kein Prophet mehr auf Berge. Also macht Bert es via Videoblog. Modern, vernetzt und ich war dabei:
Erstes Gebot: Der grundsätzliche Satzbau wird beibehalten, nur wir nehmen ein Wort raus. „Du darfst andere Götter haben“. Und schon gibt es wahre Entspannungspolitik, nicht nur im mittleren Osten, auch in Bayern – wo evangelische Sozialarbeiterinnen immer noch nicht in katholischen Hilfswerken angestellt werden. Danke Bert.
Zweites Gebot: Kein Bild von Gott? Wie wäre es, wir nehmen das ganz raus. Ja, streichen wir das komplett. Wir haben schon Götter neben Bert, ist also auch okay wenn man sich ein Bild von ihm macht. Außerdem schmeichelt ihm die Vorstellung die die Simpsons, mit riesigen Füßen, Sandalen und weißem Gewand, von ihm geprägt haben sowieso. Also ersetzen wir es einfach. Bert fällt auch sofort was ein:
Die Fußballbundesliga soll wieder nur an einem Tag in der Woche gespielt werden und zwar alle Spiele zur gleichen Zeit. Keine Sonderregelung mehr, damit Premiere – pardon „Sky“ (klingt übrigens wie ein Vodka der nicht schmeckt) – … damit Sky die gleichen Zuschauer zu unterschiedlichen Zeiten sammelt. Kein bescheuertes Freitagsspiel mehr, das einem den Abend zerschießt. Keine Sonntagsspiele mehr, die Familienfeste und Katerstimmung sabotieren. Und besonders keine versetzen Spiele am Samstag. Wer hat sich eigentlich ausgedacht dort vier Spiele um 15:30 Uhr und eines um 18:30 Uhr zu veranstalten? Damit die Jungs, die Samstags lieber selbst spielen, am Abend bei der Sportschau auf „Zwischenergebnisse“ schauen und bis nach 20 Uhr warten müssen um endlich feiern zu können. Kompletter Schwachsinn. Bert ist übrigens Bayer Uerdingen-Fan. Er war ziemlich geschockt als er rausfand: Die heißen gar nicht mehr so!
Drittes Gebot: Den Namen missbrauchen? Hm. Bert-verdammt! Das lassen wir einfach. Bert im Himmel! Kleine Maßnahme: Mit der Suchen-Ersetzen-Funktion von Word muss einfach in jedem Dokument der Welt Gott gegen Bert ersetzt werden. Was Nietzsches „Bert ist tot!“ irgendwie lustiger macht. Und die Frage nach sich zieht: Wer ist eigentlich Bert?
Viertes Gebot: Der Sabbat. Bleibt so. Wo steht geschrieben das man unterbezahlte Aushilfen im Supermarkt auch am Sonntag nerven muss? Nirgendwo. Also!
Fünftes Gebot: Vater und Mutter. Ja, das ist der Knackpunkt.
Ehren, ja. Warum nicht. Wenn es gute Eltern sind. Gerne. Aber wenn ich noch einmal auf der Straße einen selbstsüchtigen-halbtrunkenen Vater seinem Sohn eine Ohrfeige geben sehe, dann will ich mein von Gott … äh Bert … verbrieftes Recht haben, diesem Arsch meine rechte Faust in die Fresse und mein Knie in die Weichteile zu jagen.
Das Gebot sollte folgendermaßen heißen: Ja, Du sollst Deine Eltern ehren. Beide gleich. Versuch gar nicht erst einen Unterschied zu machen. Egal ob die getrennt oder zusammen leben, egal ob sie sich noch lieben oder hassen. Aber Du sollst sie ehren. Ehre Deine Eltern, wenn sie es fertig gebracht haben Dich einigermaßen zu erziehen. Dir beigebracht haben das man sich nicht schlägt, am Sonntag nicht drüber jammert das die Geschäfte zu sind, das man andächtig zuhört/sieht wenn Woody Allen Filme laufen (vielleicht lernt man ja noch was über Liebe, Beziehungen oder Humor), das man aber laut aufschreit wenn es um die Beschneidung der Persönlichkeitsrechte geht, der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Rechts auf Bildung, das man älteren Menschen keine Verachtung entgegen bringt, aber dem Nazi-Opa gerne mal ein „wusstest Du eigentlich das Hitler schwul war?“ vor den Latz knallt, das man sich zum Essen wenigstens einmal in der Woche gemeinsam mit der Familie an den Tisch setzt und nicht vor den Fernseher, das man Chips nicht immer aus der Tüte ist und das man keine Urangst vor Arabern hat, nur weil die genauso viele schwarze Schafe in ihren Reihen haben wie wir, das man zur Wahl geht und einmal im Leben Brecht und Hesse gelesen hat (was ist egal, nur das!). All das und noch viel mehr sollte man beigebracht bekommen. Da fällt das Ehren auch nicht so schwer hinterher, macht man ganz automatisch und es ist gut so. Auf der anderen Seite: Das Gebot sollte weitergehen. Es sollte sich an die Eltern richten, an alle. Reißt euch verdammt noch mal zusammen! Nicht ausflippen wenn es um Kinder geht. Die braucht ihr noch. Und wenn ihr euch nicht wie Vollidioten anstellt, werden sie eines Tages sogar ganz nützlich sein. Wie man sich nicht wie ein Vollidiot anstellt, sollte eigentlich klar sein. Erster Grundsatz: Nicht die Kinder schlagen. Natürlich will niemand eine Welt voller antiautoritär verzogener Spinner, die gleich anfangen zu heulen, wenn der U-Bahnzugführer mal laut über die Sprechanlage brüllt: „Mit dem Fahrrad nicht in den letzten Wagen, Du Hippie-Arschloch!“. Aber anders als es die meisten glauben, heißt autoritär nicht gleich Schlagen und zwischen autoritär und antiautoritär gibt es noch ganz viele weiche Abstufungen, die immer noch einen einigermaßen kompetenten Mitbürger hervorbringen. Niemanden der bei Starbucks zehn Minuten für seine Bestellung braucht, mit seinem BMW auf zwei Parkplätzen steht oder mit seinem Handy einen U-Bahnwagen beschallt. Also erzieht eure Kinder vernünftig, verdammt noch mal! Für die paar Jahre kriegt man es doch hin – auch als emotionaler Krüppel – aus sich raus zu gehen und ihnen ein bisschen Liebe, en bisschen Anstand und ein bisschen Bildung mit auf den Weg zu geben. Damit vermeidet man Kriege, Hass, den nächsten Roland Koch und bestimmt auch den einen oder anderen Hugo Chávez-Klo. Bert spricht da aus Erfahrung: Er war zu Lebenszeiten seines Sohnes nicht einen Tag zuhause. Aus dem Jungen ist trotzdem was geworden, aber wie der sich hinterher bei ihm beschwert hat. Sowas passiert Bert nicht noch mal.
Sechstes Gebot: Morden. Das kann so bleiben, wird aber durch den Zusatz „Du sollst keine Truppen in einen vollkommen hirnlosen Feldzug in ein fremdes Land schicken, von dem nur ein Bruchteil der Soldaten zurück kommt, weil die Befehlshaber wieder mal keinen Plan von irgendwas hatten“ ergänzt. Außerdem hält Bert nichts von Waterboarding, denkt sogar daran es in einem Zusatzartikel 6a mit zu verbieten.
Siebtes Gebot: Du sollst nicht ehebrechen. Von einem der selber mit einer verheirateten Frau geschlafen und ihr dann auch noch ein Kind gemacht hat … ziemlich harter Tobak. Bert weiß das auch. Es tut ihm sogar leid. Er hat sich nie wirklich bei Josef entschuldigt, aber er hat gelobt: Er tut es nicht wieder. Einigen wir uns also darauf: Man sollte es nicht machen. Egal von welcher Seite. Die eigene Ehe oder eine andere Ehe brechen. Das ist immer irgendwie nicht so doll. Okay, im ersten Moment scheint ein kleiner Ausrutscher ja okay zu sein. Aber der Morgen danach … puh! Bert hat lebhafte Erinnerungen an den Morgen danach mit Maria. Das war vielleicht ein Schweigen. Und dann diese ganze unbefleckte Empfängnis-Geschichte. Er fragt „Wie war es für Dich?“, sie zuckt nur ansatzweise mit den Schultern. Er dreht sich weg. Also … man lernt aus seinen Fehlern. Soviel dazu.
Achtes Gebot: Stehlen. Für Bert ist das ein absolutes No-Go! (So hat er das tatsächlich beschrieben, der Anglizismus kommt nicht von mir. Wobei man sich bei all dem Copyright-Klau, den das Christentum bei sämtlichen Weltreligionen betrieben hat, schon fragen muss: Wo hört Buddhismus auf und wo fängt das neue Testament an. Bert hat übrigens zugegeben: Die Neuauflage gefällt ihm wesentlich besser als das alte Testament. Erstmal natürlich weil sein Sohn die Hauptrolle spielt, nicht so ein dahergelaufenes jüdisches Findelkind aus Ägypten. Wobei Bert wirklich nichts gegen Juden hat. Immerhin ist er auch ihr Gott und sein Sohn ist das ja schließlich auch irgendwie reingeboren worden und so, aber rein dramaturgisch fand Bert dann doch die neue Version irgendwie überzeugender. Gerade das Ende. Klassische Katharsis. Großartig. Und was für ein Titel für den Schlussakt. Was ihm vielleicht ein bisschen fehlt ist das Augenzwinkern. Und so wirklich einen Twist gibt es auch nicht. Nicht so wie bei The Sixth Sense. Oh Himmel hat Bert diesen Film gefeiert. Ich meine: Es ist schon schwer einen Allwissenden echt zu überraschen … aber: Wuh! Wie M. Night Shyamalan ihn da gekriegt hat … egal. Ich verliere mich.)
Neuntes Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden. Prinzipiell auch eine gute Sache. Wobei Bert durchaus zugibt: Er hat auch nicht immer nur die Wahrheit gesagt. Ich will nicht wieder diese ganze Ehebruch-Geschichte mit Maria aufwärmen, aber er hat versprochen sich noch mal zu melden … aber es ist nie passiert. Was ihm allerdings ziemlich wichtig ist: Gerichtliche Anhörungen, Zeugenaussagen und sonstige offizielle Statements. Ungeachtet der Tatsache das Bert bei all seinen Schöpfungen (der Erde, dem Universum und so weiter…) nicht immer gleich das große Ganze im Blick zu haben scheint (wie könnte er sonst die Evolution zu einem Nacktmull erlauben oder Grottenolmen, die tatsächlich nicht den geringsten Nutzen haben), ist Bert doch ziemlich bürokratisch wenn es um juristische Wahrheit geht. Er mag einen guten Prozess so gerne wie alle Anderen auch, aber wenn es um Meineid geht ist nicht mit ihm zu spaßen.
Als Milosevic damals in Den Haag seine Lügengeschichten auftischte, hätte Bert beinahe wieder einen Rückfall in alte Schwefel und Feuer-Zeiten gehabt. Hu, war der sauer!
Zehntes Gebot: Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Frau oder Haus. Die Katholiken teilen dieses Gebot ja. Scheinbar gibt es einen Unterschied zwischen Immobilie und Eheweib, Bert rollt dazu meistens nur mit den Augen. Die Reformierten, ebenso wie die Anglikaner, Juden und Orthodoxen fassen das Gebot zusammen.
Um wieder auf genau zehn Gebote zu kommen – damit der ganze magische und metrisch bedeutungsvolle Schwachsinn auch aufgeht – fassen die Katholiken dann wiederum das zweite und dritte Gebot zusammen. Bert rollt dabei nicht nur mit den Augen, er schüttelt ansatzweise mit dem Kopf, wie er es häufiger tut wenn’s um Katholiken geht. Er meint damit wohl weniger die Anhänger als mehr ihren Hirten. Was genau er von Ratzinger hält ist nicht aus ihm rauszubekommen, aber es spricht schon einiges gegen den Mann aus Alt-Öttingen, wenn Bert ihn nicht Benedikt oder Papst nennt, sondern einfach Ratzinger. Und die Betonung die er dabei nimmt: Irgendwie schnarrend. Ganz so als würde er Spucke hochziehen.
Berts Idee für ein neues zehntes Gebot ist übrigens Folgendes: Anstatt Begehren verbieten zu wollen, was nun mal niemand kontrollieren kann (und wer sollte das besser wissen, als jemand der freien Willen in alle Menschen implantiert hat), sollte man mit so etwas wie mit einem guten Rat enden. Einem Benutzerhinweis für die Zukunft, damit die nächste Neuauflage der eigentlich immer schon recht progressiven zehn Regeln wieder erst in dreitausend Jahren ansteht. Bert formuliert das so:
„Stell Dir vor Du kommst am Samstagabend mit Deinem Auto auf den Lidl-Parkplatz. Es ist kurz vor Acht. Du braucht dringend noch Würstchen und Bier, Deine Kumpels warten schon im Park. Ein blöder Spacken, mit Bayern München-Fanaufkleber auf der Stoßstange, greift Dir den letzten Parkplatz weg. Du fluchst natürlich. Irgendwann findest Du doch noch einen freien Platz. Du rennst zum Lidl-Eingang, aber es ist zu spät. Du lässt die Schultern sinken, während die vollkommen überarbeitete Kassiererin drinnen abschließt. Und dann fragt Dich ein Motz-Verkäufer ob Du vielleicht ein paar Cent hast. Was antwortest Du? Oder besser: Was solltest Du antworten? Wie üblich den Kopf schütteln? Nicht ganz ehrlich sein und sauer werden? Klingt so auf dem Papier, rein theoretisch echt nicht fair, oder? Natürlich hast Du ein paar Cent. Wer Internetzugang hat und sich diesen überlangen Blog-Eintrag durchlesen kann, der kann auch ein paar Cent entbehren. Der kann es sich verkneifen dem Bayern-Fan ein „Fuck you“ mit dem Schlüssel in die Seitentür zu ritzen, auch wenn es schwer fällt. Der kann einfach zur nächsten Tanke fahren, dort Bier und Würstchen kaufen, sich das nächste Mal vielleicht früher auf die Socken machen und verdammt noch mal nicht über die Ladenöffnungszeiten meckern. Weil es ist seine eigene Schuld. Nicht die Schuld von Anderen. Alleine seine Schuld! Die Umstände sind nicht das Problem. Was Du daraus machst ist Dein Ding! Und wenn Du am Abend mit den Kumpels im Park abhängst und einer Deiner Bekannten hat seine neue Freundin dabei: Versuch Dich zurückzuhalten. Das ist seine Freundin. Ruf lieber das Mädchen zurück, das Du neulich auf dieser Mediziner-Semesterabschlussparty geküsst hast. Die war doch ganz süß. Ja, okay. Sie hat gesagt: Sie hat einen kleinen Sohn, ist alleinerziehend, hat ganz schön viel Scheiß durchgemacht und versucht nun von ihrem Krankenschwester-Job wegzukommen. Aber Du … Du hast daraufhin erstmal das Weite gesucht, hast Tequila mit Basti auf der Uni-Toilette getrunken. Himmel!
Versuch Dir nicht einzureden dass Du noch nicht bereit bist. Du bist fast Dreißig! Komm endlich aus dem Knick! Benimm Dich einmal wie ein normaler Mensch!“
… Ja. Das hat er gesagt. Bert ist nicht unbedingt der stille Typ, wie man es aus den bisherigen Büchern über ihn so gewohnt ist. Und irgendwie hat er es auch nicht so mit den melodramatisch-monumentalen Formulierungen wie früher. Dieses ganze „Du sollst…“-Zeug. Als er mit seiner kleinen Rede dann fertig war, begann er leicht zu grinsen. Er legte eine Hand auf meine Schulter, sah mich väterlich an und nickte mir aufmunternd zu: „Weißt Du“, sagte er. „Am Ende … am Ende sind wir alle nur menschlich.“ Also wenn mein Bert (und das ist schließlich der Bert von uns allen) Star Trek zitieren kann, dann ist noch nicht alles verloren.
Glutamat-Bomber
Vor mir in der Schlange bei Starbucks steht eines jener Mädchen die man auf Kommando großartig findet. Gut: Gegen sie spricht die Tatsache bei Starbucks für einen Venti-Moccachino-Latte-mit-Bizet-Teig-auf-der-Schaumkrone zehn Minuten anzustehen, aber ich bin ja auch nicht besser.
Jedenfalls ihre Kleidung: Okay, H&M-Jeans (ich weiß wovon ich rede). Aber wie sie die trägt… nicht einfach so. Eine halbe Nummer zu groß und nicht eine halbe Nummer zu klein. Nicht reingezwängt, sondern mit dem richtigen Maß an Selbstbewusstsein einfach etwas weiter gekauft. Das ist ja schon im Subtext so beeindruckend: Das letzte Mal als ich mit meiner Ex-Freundin Einkaufen war, zwängte sie sich wild strampelnd in eine 34er (bis heute weiß ich nicht was das heißt, aber der Verkäufer sagte das mit einem Augenrollen). Und jetzt dieses Mädchen:
Ihre Turnschuhe sehen arg mitgenommen aus. Ganz so, als hätte sie gerade ein Wochenende am Badesee oder einen Trip an die Ostsee hinter sich. Wäre ich doch nur dabei gewesen.
Ihr T-Shirt – irgendwas mit einer Band drauf (bestimmt funkiger Trip Rock oder Acid Pop, und bestimmt irgendwas semi-Bekanntes, eine europäische Band, nicht zu weit weg, aber mit deutlichem Einschlag, die über Liebeskummer und Weltkrieg singen) – passt genau, es sitzt nicht eng: Es passt einfach.
Die Haare sind in blonden Locken verdreht. Dunkle Strähnen zeichnen sich dazwischen ab: Ein Meer aus hell und dunkel, hell und dunkel und …
Dann trifft es mich. Um ehrlich zu sein, ziemlich genau in der Rippengehend. Ein Mädchen mit glatten, schwarzen Haaren rempelt mich an, stößt mit den weiten Lederstiefeln gegen mein Bein, entschuldigt sich gehaucht – mehr noch: genuschelt – und geht dann weiter. Sie ist der südspanische Traum einer Flamenco-Tänzerin, nur ohne Hüften (ganz der Model-Bulimie-Traum). Sie trägt schwarze, enge Hosen und dazu ein rotes Top. Wie für einen Stier. Alles ergänzt sich. Ich wende den Blick, dann starre ich die großen, tiefgrünen Augen des wartenden Mädchens hinter mir. Sie guckt schüchtern über die schmale Brille hinweg, hat dabei etwas Keckes und gleichzeitig ist sie unschuldig wie begehrenswert. Mein Blick geht weiter: Starbucks ist voll von Abziehbildern, von jenen eindeutig uneindeutigen Mädchen aus dem Paradies. Mädchen die wie Glutamat-Bomber die Geschmacksverstärker einer aus Hüllen bestehenden Welt zu ihrem Mantra gemacht haben. Ich will hier gar nicht wortklauberisch werden: Es kotzt mich nur an.
Nicht erst seit heute, immer schon. Dies ist nicht meine Welt. Meine Welt stinkt manchmal, schwitzt und kann sich nicht entscheiden ob es Blümchenbluse oder schwarze Lederhose sein soll. Zieht man eben beides an! Meine Welt kennt nicht die Wüste der klaren Linie. Meine Welt ist dazwischen. Irgendwo im zweifelnden Dreck.
Theologisch wie das klingen mag: Meine Welt ist durch Starbucks neu geboren. Nie wieder einen Chai-Latte-mit-extra-Milchschaum. Nie wieder.
Ab heute heißt es: Back to the Roots. Wo immer die sind.
Warum schreib ich eigentlich nicht „Bitte nur Liebesbriefe“ auf meinen Postkasten?
Quittungen sind der Ausdruck des zutiefst in uns steckenden Bewusstseins: Alle Menschen sind schlecht. Die Erbsünde eben.
Einen anderen Grund dafür gibt es nicht.
„Entschuldigen Sie, ich habe diesen Rasenmäher vor zwei Tagen bei Ihnen gekauft. Da ist jetzt der Sack aufgerissen. Einfach so. Ich hab’ nicht mal gemäht.“
„Quittung?“
„Ich hab’ ihn vor zwei Tagen gekauft. Sieht man doch. Der ist brandneu.“
„Quittung!!!“
„Hab’ ich nicht mehr. Aber es gibt nur ein Toom-Baummarkt in einem einhundert Kilometer Radius. Warum sollte ich mit meinem Wagen diese Strecke fahren und dabei Sprit im Wert von- – –
„Ohne Quittung geht nicht.“
„Vertrauen Sie mir nicht? Sehe ich wie ein – – –
„Ohne Quittung geht nicht! Hören Sie schlecht?“
Ich höre gut. Jedenfalls noch. Wahrscheinlich ändert sich das nach einem Leben mit Ohrstöpseln, aber momentan höre ich noch sehr gut.
Ich höre wie sich vier Leute hinter mir am Sonntagmorgen beim Brunch unterhalten. Geschlagene zehn Minuten lang redet die Mutter, ich kann nur vermuten das es SEINE Mutter ist, weil die jüngere der beiden Frauenstimmen deutlich zu hoch ist, wenn sie die Ältere anspricht, die Mutter also: Die Mutter philosophiert in einer Tour über die Möglichkeiten dieser gastronomischen Einrichtung. Brunch oder Frühstück von der Karte. Vielleicht doch Brunch. Ist viel Käse da. Wenn man Käse mag. Man muss ein Käse-Typ sein. Irgendwann bestellen die Vier (der Vater spricht wohl eher wenig) dann drei Mal Brunch und die Mutter sagt „Das Kreuzberger Frühstück“ und kichert, als ob sie damit selten kreativ ist. Dann der Hammer: Heute nur Brunch.
Wann es wohl den ersten Nazi-Flashmob gibt? Mit sechshundert Glatzen, die sich vor einer Synagoge aufstellen und den Hitler-Gruß machen. Für eine Minute, ganz genau. Dann verstreut sich alles wieder und der einsame Polizist davor weiß nicht was er machen soll. Früher hätte er vielleicht Meldung an den Vorgesetzten bei der Stasi gemacht. Aber heutzutage … man weiß nicht wo Kunst aufhört und Scheiß-Ideen anfangen. Man weiß auch nicht wo politisches Engagement aufhört und purer Aktionismus anfängt.
Dreihundert Leute per SMS am Münchener Hauptbahnhof zum Stillstehen gebracht. Toll. Damit zeigt man es der immobilen Welt. Super. Wir kreisen mit wahnsinniger Geschwindigkeit um uns selbst und twittern uns zu wie schnell wir alle doch sind, und die bleiben stehen. Was für’n Zeichen ist’n das? Mal vor ner Werbefirma die magersüchtige Models auf Magazincover packt einfach geschlossen bolemisch hinkotzen, das wäre ein Zeichen. Oder all die afrikanischen Kinderleichen an die Frankfurter Börse karren, wenn gerade Weizen gehandelt wird. Oder pakistanische Kinderleichen …
Gibt es überhaupt ne Synagoge in Potsdam?
Jetzt schicken wir einen Deutschen auf den Mond. Na ja: Ins All. Na ja: Bisher noch nirgendwo hin. Wir wissen es noch nicht. Aber ausbilden. So wie FDP-Nachwuchs. Irgendwas findet sich schon. Irgendein Marktsegment lässt sich noch ausschöpfen, damit auch der letzte Schweineborsten-Rasierpinsel-Einzelhandel dichtmachen muss, weil es das jetzt auch bei amazon gibt. Oder bei guenstiger.de.
Was nichts kostet ist nichts wert. Liebe kostet nichts, oder?
Als ich selbst in meiner Nähe stand
Im Finale von Worlds Next Messiah stehen ein ziemlich dicker Dauergrinser, ein Mann mit langem Spitzbart und ein Junge aus dem Westjordanland.
Der Moderator ist, wie könnte es anders sein, Johannes B. Kerner.
„Buddha?“, fragt Kerner grinsend und wird dann von Gastjuror Lothar Matthäus mit der Frage „Budda? Kommt da eigentlich „Budda bei die Fische“ her?“ unterbrochen. Keine Antwort. Eisiges Schweigen.
„Wo ich stehen geblieben war“, führt Kerner fort. „Buddha, bei ihrem letzten Projekt haben Sie als Berater für Quentin Tarantino gearbeitet. Der Film heißt ‚This fuckin’ Reincarnation’ und handelt von einem Buddhisten, der den ewigen Kreislauf der Wiedergeburt leid ist. Deswegen begibt er sich auf einen Amoklauf von biblischen Ausmaßen, nur um am Ende als die schlimmste aller Formen wiedergeboren zu werden: Nichts … und so den Kreislauf der Wiedergeburt endlich durchbricht.“
„Entschuldigung.“, mischt sich ein weiterer Gastjuror ein. „Entschuldigung. Aber ich glaube, wir haben das Patent auf das Wort „biblisch“. Vielleicht benutzen sie doch einen unreligiöseren Superlativ. Danke.“
Nachdem Kerner sich galant und professionell entschuldigt hat, setzt sich der empörte Ratzinger wieder. Die Aufmerksamkeit liegt bei Buddha.
„Nein.“
„Wie: Nein?“ Nun will es Kerner genauer wissen.
„Nein. Ich habe mich geweigert mit Tarantino zusammen zu arbeiten.“
„Aha. Warum?“
„Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin ein großer Fan. Wie Uma Thurman in Kill Bill 1 kurz zwinkert und die Kampfsequenz wird Schwarz-Weiß … großartig. Aber ich habe ein eigenes Skript für einen Buddhismus-Film eingereicht und Tarantino hat es abgelehnt. So hat sich eine weitere Zusammenarbeit für mich erledigt. Er hat sich dann diesen vierarmigen Kerl aus dem Hinduismus geholt. Meinte: Das wirkt sowieso besser vor der Kamera. Vollkommener Schwachsinn. Vier Arme. Wie sieht’n das aus?“
„Hm.“
Kerner wendet sich an den Mann mit langem Spitzbart:
„Ihnen wurde auch mal eine Filmrolle angeboten, oder?“
„Ja. Ich sollte Harrison Fords Vater in Indiana Jones 4 spielen, nachdem Sean Connery abgesagt hatte.“
„Warum haben Sie’s nicht gemacht?“
„Ehrlich gesagt: Damals fand’ ich das ziemlich anmaßend. Ein Sohn armer Eltern aus Mekka soll den Platz des vielleicht größten, schottischen Schauspielers einnehmen … uh, nein. Viel zu viel Verantwortung. Im Nachhinein allerdings: Ich bin froh das ich nicht dabei war.“
„Aha. Warum?“
Während Kerner weiter fragt, beginnt Gastjuror Ricky Martin (selbsterklärter Retter des Latino-Pop) gelangweilt die Os, Ds und Qs auf seinem Fragebogen auszumalen: In Rosa.
„Warum, warum, warum?“, entgegnet der Mann mit dem langen Spitzbart genervt. „Weil der Film Grütze war. Absoluter Scheiß. Das hätte meine Karriere ruinieren können. Und dann dieses Auflösung am Ende: Außerirdische. Ist doch vollkommener Blödsinn.“
„In der letzten Mottoshow, Thema: Auferstehung, kurz vor dem Finale, ist Kebal Kutur ausgeschieden. Er sagt von sich, der außerirdische Erlöser einer irdischen Sekte zu sein.“
„Und? Hat ihm irgendjemand geglaubt?“
Langsam wird der Mann mit dem langen Spitzbart wirklich sauer.
„Das ist doch immer so. Egal wohin ich komme. Überall gibt es diese Spinner, die Paradiesvögel, die glauben sie können einem längst vergangenen Hype hinterherlaufen. Und dann sagen sie, sie sind Außerirdische oder stechen sich ein Auge aus und wollen als Zyklopen durchgehen. Aber sobald es ‚tough’ wird … ich meine: Richtig ernst! Sobald sie mal echt ein Wunder vollbringen sollen, so wie Auferstehung. Hey: Ihr habt den Typen gesehen. Wie der rumgekrebst hat, alleine dabei wie er am Ende den Stein vor der Höhle wegschieben sollte. Amateur. Ich dagegen, und dabei ist Auferstehung echt nicht meine Disziplin, hab’ die Zähne zusammen gebissen und hab’s durchgestanden. So sind wir Muslimen.“
„Okay.“ Kerner scheint beeindruckt.
„Das heißt: Sie denken der Richtige für die weltweite Erlösung zu sein?“
„Klar. Hundert Pro. Und diese Propaganda, vonwegen ich hätte was gegen andere Religionen. Vollkommen übertrieben. Sowas hab’ ich nie gesagt, oder gemeint. Was ich meinte war: Für irgendwas muss man sich entscheiden, warum also nicht für den Islam. Okay, wir haben Fehler. Gebe ich gerne zu. Aber guck Dir mal die Juden an…“
„Bitte?“, meldet sich Gastjurorin Hannah Arendt.
„Nein. Nicht Sie. Ich meine Friedmann und die ganzen Knallchargen.“
„Okay, okay.“, unterbricht Kerner. Gastjurorin Arendt schüttelt derweil mit böser Miene den Kopf.
„Du bist doch auch Jude.“, spricht Kerner den Jungen aus dem Westjordanland an.
„Wenn man Dich fragen würde: Würdest Du erneut das Leid der ganzen Welt auf Dich nehmen?“
„Ich?“, fragt der Junge aus dem Westjordanland unsicher nach.
Kerner nickt.
„Nein. Wieso denn?“
Kurzes Erstaunen bei der Jury. Ein Raunen geht durchs Publikum.
„Aber … aber“, beginnt Juror Ben Becker. „In Deiner Vita heißt es … „und er nahm die Sünden der gesamten Menschheit auf sich.“ oder wie ist das zu verstehen? Bildlich?“
„Nein. Auch nicht bildlich. War einfach nicht so. Alles Folklore.“
Der Junge aus dem Westjordanland scheint nicht erstaunt, dafür springt Gastjuror Dan Brown auf:
„Ha! Das hab’ ich immer gesagt!“
Unruhe bricht unter den Jurymitgliedern und auch im Publikum aus. Kerner hat einige Mühe alles wieder unter Kontrolle zu bringen.
„Gut, gut, gut. Lassen wir das mal mit der gesamten Menschheit weg … wie viele Leute wärst Du bereit zu retten und in eine bessere Zukunft zu führen, so als Worlds Next Messiah? Eine Million? Zwei?“
Kerner fixiert den Jungen aus dem Westjordanland, aber der beißt sich nur kurz auf die Unterlippe und antwortet dann achselzuckend.
„Hm … keine Ahnung. Nicht so viele. Vielleicht zwei Menschen, maximal drei. Vier … wenn’s hoch kommt.“
Unverständnis und fragende Blicke. Der junge aus dem Westjordanland zupft sein ausgewaschenes Offspring-T-Shirt zu Recht und versucht gerade auf seinem Kandidatenhocker zu sitzen. Dann räuspert er sich:
„Um mehr geht’s doch gar nicht. Wer versucht die ganze Welt zu retten, hat definitiv einen Gottkomplex.“
„Garnicht!“, brüllt der Mann mit dem Spitzbart und der Dauergrinsen hört mit dem Grinsen auf.
„Wie Du meinst.“, lächelt der Junge aus dem Westjordanland.
„Aber Fakt ist: Ich kann nicht alle retten. Nicht mal die, die ertrinken … wenn ich nicht schwimmen kann. Mal als Gleichnis gesprochen.“
„Toll. Und das von jemandem der übers Wasser läuft.“
Buddha grinst wieder, und bekommt Unterstützung vom Dalai Lama. Aber der Junge aus dem Westjordanland lässt sich nicht verunsichern.
„Fakt ist auch: Ich kann nicht mal alle lieben.
Als ich damals mit meinen Jungs durch Galiläa gelaufen bin, haben wir versucht niemanden auszulassen. Wirklich niemanden. Hin und her sind wir gerannt. Wenn ich das heute machen würde, ich würde von einem Baumarkt in Mecklenburg-Vorpommern bis zum kleinsten Shoppingcenter im Wartburgkreis wandern. Aber es würde nichts bringen. Du kannst nicht jeden erreichen und Du kannst auch nicht alle lieben.
Ich erinnere mich an eine Situation, da hat uns so ein bescheuerter, römischer Viehhändler fast von der Straße nach Kana abgedrängt. Da waren wir echte alle auf 180. Lukas wollte ihm schon hinterher und so richtig die Fresse polieren, Markus hat ihm den Mittelfinger geziegt, selbst mir kam ein ‚Fuck you, Römer!’ über die Lippen. War kein schöner Anblick …
Aber egal.
Im Endeffekt ist es auch nicht meine Aufgabe alle zu lieben. Ich hab’ da zuerst meinen Arbeitsauftrag schon so verstanden und oft wird das auch so wiedergegeben. Aber so war das garnicht. Es ist halt nicht einfach der Sohn vom Chef zu sein. Aber es liegt alles viel näher. Zuneigung. Ein paar Menschen ganz nah ran lassen. Das war gemeint. Erlösung durch den direkt Nächsten. So geht das.“
„Sie meinen: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst?“, fragt Kerner nach und schlägt dann ein bekanntes Fantasy-Buch wieder zu.
„Nein. Wo haben Sie’n das her? Wie soll ich denn jeden Nächsten lieben wie mich selbst? Okay: Erstmal muss ich mich selbst lieben. Schon mal nicht schlecht. Aber was ist mit den Ackermännern dieser Welt? Zuviel Selbstliebe ist auch nicht gesund. Also weniger von Beidem. Weniger Selbstliebe und weniger Nächste. Sich einfach mal auf die wirklich wichtigen Personen einlassen. Eine Frau finden, oder einen Mann. Ich bin da echt nicht der, der irgendjemandem was vorschreiben will. Ich war mit zwölf Typen für ne wirklich lange Zeit unterwegs und nicht jeder der Typen hatte sich sexuell schon entschieden. Da lief ne Menge ab. Egal … worauf es ankommt: Jemanden finden. Ihn lieben und genauso mit sich selbst verfahren. Liebe Dich selbst, wie Du Deinen Nächsten liebst. Aber nur den Einen … oder zwei. Nen guten Kumpel vielleicht noch, die Eltern … wobei man da aufpassen muss. Ich selber komm’ aus ner Patchworkfamilie … aufgezogen von nem Typen der nicht mein leiblicher Vater war, aber dauernd mit irgendwelchen Leuten konfrontiert, die durch mich an meinen leiblichen Vater rankommen wollten … war nicht einfach. Mein leiblicher Vater … ziemlich strenger Typ. Hat was echt Angsteinflößendes. Aber mein Ziehvater war cool. Hat viel mit Holz gemacht. Laubsägearbeiten, da kriegt man als Kind was Kreatives mit auf den Weg. Ich hab’ ihn geliebt. Genauso wie ich meine Freundin liebe und unsere Kinder. Aber eben nur diese Auswahl. Mein Best-of. Und so wie ich die liebe, so liebe ich mich. Also nicht die Ich-Perspektive wählen, mehr auf Andere eingehen. Und nicht auf alle. Das geht doch total in die Hose: Wenn ich mich so sehr lieben würde, wie ich die Tante beim Burgeramt liebe, die mir schon wieder das Wohngeld gestrichen hat, dann würde ich vor lauter Selbsthass das Haus nicht mehr verlassen. Kann doch garnicht gehen.“
Die Jury sieht sich an. Es kommt zu keiner Diskussion. Der Junge aus dem Westjordanland fliegt raus.