Niemals Ich

Kevin-Prinz Boateng. Abgesehen vom „Kevin“ ist das ein wirklich schöner Name. Geradezu niedlich. Das der dazugehörige Fußballer neuerdings nur noch als böse guckendes, Hanteln stemmendes Monster in allen regionalen und überregionalen Buntblättern zu sehen ist, macht aus dem Prinz dann allerdings eher den „bösen Mohr“.
Im Internet wird dann sogar noch eine Schippe drauf gelegt. Die wunderbare Anonymität des Netz hilft jedem, aber auch wirklich jedem dahergelaufenen Arschgesicht seine Hassfantasien und damit wohl in erster Linie Frust abzubauen.
Es ist geradezu typisch-freudianisch (freudsch?) wie man im WWW an jeder zweiten Blog-Ecke (!!!) oder unter jedem „News“-Artikel mit bestialisch bis primatenhaft-primitiven Beleidigungen konfrontiert wird. Ich nehme mich da nicht raus. Zwar hab ich Kevin-Prinz nie weniger als das Beste gewünscht, aber Andere mussten trotzdem leiden:

Das Internet habe ich im zarten Alter von 18 im wöchentlichen I-Café des Jugendtreffs Fulda kennen gelernt. Zwar hatten wir auch zuhause ein Modem, aber … na ja … die Geschwindigkeit machte daraus eher etwas für lange und verregnete Sonntagnachmittage. Also fuhren ein Kumpel und ich jeden Freitag einen dritten Kumpel in eben diesem I-Café besuchen (der Name „I-Café kam übrigens schon lange vor iPods und iPads auf. Suck it, Steve!). Dort loggten wir uns, während wir auf das Ende der Spätschicht warteten, in diverse Chatrooms ein. Jedes Mal unter einem anderen Namen und mit einer anderen, fiktiven Identität. Ich würde mich gerne immer noch selbst davon überzeugen das wird sonderbar kreativ waren und wir das „in eine andere Rolle schlüpfen“ nur ausprobieren wollten. Fakt ist aber: Was wir taten unterschied sich nur durch eine einzige Tatsache vom Annehmen alternativer Identitäten, wie wir es vorher schon in tausenden von Computerspielen getan hatten: Diesmal glaubten wir an die Echtheit, die fleischliche Wahrheit unserer virtuellen Gegenüber. Und so stürzten wir uns, wie zuvor in Duke Nukem 3D, diesmal in das Spiel „Chatroom“. Emails checken brachte damals nichts, Adressen waren noch so rar gesät wie Burkas im jüdischen Museum und das Wort „Profil“ brachte man nicht mit Facebook sondern mit Scherenschnitt in Verbindung (ach ja, es waren simplere Zeiten … und – gegeben die uncoole 60er-Referenz „Scherenschnitt“ – auch sehr viel langweiligere Zeiten).
Allerdings, gemessen an der Einfachheit der Zeit, war unser Einsatz des Chats nicht weniger unmoralisch, nicht naiver als der beleidigende Nutzen den heutzutage hunderttausende von Menschen jeden Tag gesichts- und identitätslos aus den Kommentarfunktionen des Netz ziehen. (Puh. Das war ein langer und viel zu umständlicher Satz. Aber was würde das jetzt für Arbeit bedeuten den zu zerteilen und dadurch lesbarer und verständlich zu machen, hm? Ich mach da nichts mehr dran. Merkt sowieso keiner.)
Leute die als „CrazyEddie77“ oder als „Unknown“ YouTube-Videos bewerten und kommentieren, Spiegel-Online-Artikel durch namenlose Diskussionen in Foren gewichten: So wie diese Leute wollten wir damals auch nur was loswerden, wollten austesten wo und wie man den maximalen Effekt erzielt (in den aufgeregten Antworten des Gegenübers) und wo man am Ende selbst die Grenze zieht. Eigentlich nirgendwo. Wir machten uns lustig, spotteten und beschimpften. Wichtig für den Kick war und ist: Echt muss der Gegenüber sein (das muss man glauben), dann lässt man alles raus, alles los.

Ein paar Jahre später, jetzt schon mit eigener eMail-Adresse, wohnte ich bereits in Berlin und studierte so vor mich hin, als ich mich – wieder zusammen mit einem Kumpel (man sieht, meine adoleszenten Versuche das Internet zu begreifen, zu beherrschen und zu erobern waren durchaus stets gruppendynamisch) – auf eine Rammstein-Fanseite verirrte.
Heute noch zitiere ich gerne aus unserer, vermeintlich cleveren Parodie eines schwul-ergebenen Fans im Gästebuch. Unser erfundener Fan berichtete dort in einem langen Eintrag und in – wie wir fanden – für das Gästebuch ungewöhnlich wortgewandter und gleichzeitig erschreckend eindrücklicher Manier, wie er sexuell vom Rammstein-Sänger bedrängt wurde und es ihm gefiel. Ein Sturm der Entrüstung ließ sich in den Folgetagen auf der Fanseite und unter unserem Eintrag lesen. Etwas Besseres hätte man uns nicht antun können. Es war großartig zu sehen was für einen Eindruck man auf das Leben Anderer – jedenfalls virtuell – haben kann, gerade in einer Zeit, in der man ansonsten das Gefühl hat überhaupt keinen Eindruck irgendwo zu hinterlassen.

Neulich hat man mir dann ein YouTube-Video eines jungen Mädchens gezeigt, welches vor der UN auftrat um dort an die Anwesenden und an die Welt zu appellieren und viele gute Gründe nannte, warum man sich für besseren und für mehr Umweltschutz einsetzen sollte. Das Mädchen sprach ohne Furcht zu den mächtigsten Menschen auf diesem Planeten und bat diese, sich für ihre Welt, die immerhin mal ihre Kinder erben sollen, stärker einzusetzen. Der Auftritt war beeindruckend und das Video fesselte tatsächlich auf jene 10-YouTube-Minuten die unsere Aufmerksamkeitsspanne definieren, wie es früher die Buchdeckel der Gebrüder Karamasow taten. (Wow. Ich kippe einfach immer wieder in den technikhassenden Jargon eines Ende-Achtzig-Jährigen. Vielleicht hab ich Alzheimer oder so was, oder das Raider war nicht mehr gut … )
Jedenfalls: Wie ein entfesseltes ES, ein triebgesteuertes und ohne moralisches oder rationales Denken gezügeltes Tier hatten unter dem Video dutzende „User“, nicht Personen, nur „User“ – gelöste Benutzer, einzig existent im Internet – … hatten also „User“ die übelsten Beschimpfungen und zeilenweise grenzdebilen Schwachsinn gespostet. Vielen war das, was das Mädchen im Video gesagt hatte, entweder zu langweilig oder überhaupt viel zu „unmachbar“ (ich zitiere mal frei). Anstatt allerdings in eine Diskussion einzusteigen, wurde nur abwertend beschimpft oder mit den typischen Kürzeln Verachtung ausgedrückt.
Kaum noch erschüttert hat mich dann die Tatsache, dass neben dem UN-Mädchen-Video, mit 2000 Hits, ein Video eines Hundebabys angeboten wurde, mit 9 Millionen Hits. God save cute little Hundebabys!

Vielerorts ist es im Internet möglich sich lang und breit und gern beachtet und von Meinungsforschern (oder was sich so was heutzutage schimpft) zitiert, zu einem Thema zu äußern. Dies passiert absolut anonym. Meistens ist es für einen Kommentar nicht mal mehr nötig ein Profil zu erstellen oder gar einen Namen oder eine eMail-Adresse anzugeben: So gesehen entkoppelt sich so besonders leicht das Es vom Über-Ich, welches beim Erstellen eines, jedenfalls für kurze Zeit, Profils bei (z.B.) Facebook durchaus oft noch anwesend ist (jedenfalls in Teilen. Hasst ihr eigentlich auch diese vielen Einschränkungen und Kompromisse?). Das Über-Ich wägt hier nach gesellschaftlichen Konventionen ab, erlaubt oder verwehrt die Angabe gewisser Neigungen und Präferenzen, sanktioniert Äußerungen über Andere, Kritik und auch schon mal ein Foto, von sich und von anderen, aber öfter dann schon von sich und nicht von anderen.
Das Über-Ich kontrolliert das Es im Beisein des Ich. Dagegen wird die Freiheit des Internets gerade dafür besungen. Der große Vorteil sei doch, dass das WordWideWeb endlich für den Menschen die maximale Freiheit bedeute, die Möglichkeit sich auszuleben, GANZ MAN SELBST zu sein. Danke Piraten-Partei, dass man das Internet und dadurch die grenzenlose Freiheit jetzt auch wählen kann. (das war ironisch gemeint, falls ihr es nicht gemerkt habt: NERDS! Fucking Retards! Zieht euch mit ner Staffel Xena aufs Klo zurück und überlasst Politik den Leuten die im Politikunterricht auch mal den Mut besaßen sich zu melden. Apropos: Wenn Xena, dann Staffel 1, Episode 8: Gastauftritt Kevin „Hercules“ Sorbo. Rockt der, oder was?)
Wo war ich? Ah ja: Bullshit ihr verkappten Ches des WWWs. So!
Ohne die Kontrolle des Über-Ich ist man nicht MAN SELBST, ebenso wenig wie man ohne Es MAN SELBST sein kann. Über-Ich und Es bedingen einander und sind für das GANZE SELBST absolut notwendig.
Aber die meisten Anbieter von Portalen, Foren oder Blogs, auf denen man Kommentare, Bewertungen oder Meinungen hinterlassen kann, wissen das Hits und Traffic die Währung des Internets sind. Und Hits und Traffic lassen sich leichter „erwirtschaften“, wenn man das Kommentieren ohne Profil möglich macht, also die Anonymität für Bewerter und „Poster“ gewährt. Das Über-Ich bleibt Draußen. Es darf rein. So einfach ist das.
Für solche Trennungen der Summanten des GANZEN SELBST gibt es und gab es, schon bevor ich mit 18 in Chatrooms mit wahrscheinlich ebenso alten und verkorksten Idioten Beleidigungen austauschte, Computerspiele. Davor gab es Rollenspiele mit Stift und Papier und davor gab es schon immer die Möglichkeit sich als Sprayer (oder im alten Rom als „Kohlestiftmaler“) nachts an eine wehrlose Hauswand anzuschleichen und ihr mit einem hastig geschriebenen „Fickt euch alle“ sein Es aufzudrücken.
Was sich geändert hat, fragt ihr? Ehrlich? Das fragt ihr euch? Hat wirklich niemand verstanden worauf ich hinaus will? Hm? Die Präsenz, mensch! Die Präsenz! Die Möglichkeit und die Leichtigkeit die das Internet für so etwas bereithält. Jetzt kapiert?
Nirgendwo ist die Gemeinschaft so wenig vom Über-Ich geprägt wie im Internet. Die absolute Freiheit lässt nicht die absolute Gemeinschaft zu, sie schafft die absolute Trennung. Wie man das lösen kann und was das alles – tiefergehend meine ich – bedeutet … muss wann anders diskutiert werden. Und das werde ich, ohhh ja … keine Sorge.
Es scheint vielleicht sowieso etwas paradox, dass ich dies in einem anonymen Blog schreibe. Also will ich zum Schluss für eine Sekunde aus meiner paltonischen (platonikischen?) Höhle herauskommen:
Mein Name ist Floris. Ja, so heiße ich. Ich bin 29, lebe in Berlin und zwar im Wedding. Mein Vorname und sein uneindeutiges Geschlecht hat mich vor dem Wehrdienst bewahrt. Ich fresse viel zu viel Süßigkeiten und komme nur schwer mit dem Sport hinterher. Ich liebe Autofahren, egal was das mit dem Planeten anstellt, habe im Zoo mal über ne Stunden interessiert den Affen beim Sex zugesehen (aus rein wissenschaftlichem Interesse natürlich … was mir die alarmierten Wärter auch nicht geglaubt haben) und ich trage manchmal rosa Hemden.

Ach ja, und ich finde Kevin-Prinz Boateng sollte in der Nationalmannschaft spielen und dieser arrogante Pisser Michael Ballack ist sowieso zu alt.

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