Nicht Fünf, Nicht Sieben

Stellen wir uns für einen Moment vor wir schweben. Nicht über der Bettdecke, sondern im freien Raum. Wir verlieren die Orientierung. Die unzähligen Sterne um uns, sind zu weit weg und zu zahlreich um an ihnen Höhe, Länge oder Lage festzumachen. Wir schweben. Ein einzelner Stern leuchtet uns an. Warmes, weiches Licht.
Wir atmen ganz ruhig. Strecken die Arme aus, alle Glieder von uns. Wir schließen die Augen, öffnen sie wieder: Um uns ist Licht. Ein Lächeln umspielt unsere Lippen. Dann: Bam!
Ein schwitzender, schleimiger Priester hält uns in seinen Klauen. Wir sind vielleicht sechs, oder sieben. Er benutzt uns, flüstert dabei, gierig ist seine Stimme, sein Atmen an unserer Kehle, feucht und hechelnd. Er kommt uns näher und näher. Wir wollen zurück ins Weltall. Wir wollen schweben. Er hält uns hier, es dauert lange. Sehr lange. Es passiert oft. Viel zu oft. Irgendwann ist es vorbei. Wir versuchen es zu verdrängen. Zwanzig Jahre. Immer wenn die Bilder von seiner Pranke, die uns am Boden hält, wieder vor unserem inneren Auge auftauchen, flüchten wir uns in den leeren Raum. Ins Schweben. Alleine. Dort wo er nicht hinkommt. Den Glauben haben wir schon längst verloren. Die Angst vor Magie, vor allem was mit tieferer Bedeutung beladen wurde. Sie macht uns furchtsam, lässt uns weichen. Wir leben in der ständigen Anwesenheit dieser Angst. Sie sitzt mit uns im Zimmer, lugt kalt grinsend mit feuerroten Augen in unsere Richtung. Nur das Schweben lässt uns stille Momente der Ruhe. Dann kehren wir wieder vor das Erlebte zurück. An einen Ort an dem das nicht existiert. Nie existiert hat. Und ich noch lebe.

Meine Mutter ruft mich vor dem Start der Maschine an. Sie klingt nervös und ihre Stimme ist ein bisschen belegt. Sie hat mir noch ein Buch am Flughafen gekauft. „Phillip Roth, den liest Du doch auf Englisch, oder?“ Sie ist unruhiger als früher, meint es wäre nichts, ich schiebe es auf das Alter. Ich versuche ihr Mut zu machen, habe nicht viel Zeit, wünsche ihr einen guten Flug und lege auf. Am Nachmittag erscheint mein Vorgesetzter in meinem Büro. Zuerst verstehe ich nicht was er von mir will. Eine Explosion? Über Philadelphia? Meine Mutter?
Spiegel-Online spricht von einem „Feuerregen über Philadelphia“, dann bin ich schon aus der Tür. Im Büro meines Vorgesetzten steht ein Fernseher. Dann sagen sie die Flugnummer durch. Meine Kehle schnürt sich zu. Was hat meine Mutter gesagt? LH … und weiter? Der Reporter sagt: Philadelphia nach München. Ich versuche zu schlucken, es geht nicht. Zuerst rufe ich meine Schwester an. Die Flugnummer? Ich reiße sie aus einer Vorlesung. Sie wird hysterisch, dann warten. Die Bilder auf dem Fernsehschirm scheinen so irreal. So weit weg. So etwas beeinflusst mein Leben nicht. Nein. Hat nichts mit mir zu tun.
Vier Tage später ist die Beerdigung. Ich habe noch nicht geweint. Ich kann nicht. Ein leerer Sarg. Das ist sie nicht. Ein Mann hatte Plastiksprengstoff unter seinem Hodensack versteckt. Am Bahnhofskiosk sehe ich eine Überschrift „Genital-Bomber“. Jemand lacht. Ich kriege keine Luft mehr. Ich will schreien aber es geht nicht. Ein Bekenner-Video wird nach einer Woche Al-Jazira zugespielt. Ich weine nicht, ich kotze.
Einhundertsechsundvierzig Insassen, zweihundertachtundneunzig Bewohner von Philadelphia. Ich sehe einen Moslem auf der Straße einen Turban tragen. Ich will ihn schlagen, stattdessen weine ich.

Mein Vater war ein stolzer Mann. Mein Großvater war Bibliothekar, also war mein Vater auch Bibliothekar. Er hat in seinem Leben mehr als zweitausend Bücher gelesen, hat er mir einmal erzählt. Sein Lieblingsbuch war das eines Juden, wie er dann flüsternd hinzufügte. Niemand wusste davon. Er behielt es für sich. Sagte es niemandem. Außer mir. Wir waren auf einem Spaziergang, von dem kleinen Laden meiner Eltern zum Meer. Mein Vater wollte nie dass ich im Gazastreifen bleibe. Er wollte auch nicht dass ich Bibliothekar werde. Ich wurde Lehrer für Englisch und Geschichte an einer Gesamtschule in Hamburg. Offiziell bin ich ägyptischer Staatsbürger, mit Aufenthaltsgenehmigung. Am 28. Dezember 2008 starb mein Vater durch einen herab gestürzten Stützpfeiler in seinem eigenen Laden. Die Israelis nannten die Offensive „Operation Gegossenes Blei“. Im Internet habe ich gelesen das der Name an ein Kinderlied angelehnt ist. Mein Vater litt sechs Stunden. Er lag unter dem Pfeiler, während die Luftangriffe vermeintliche Schmugglertunnel von Rafah nach Ägypten zerstörten. Er verblutete. Meine Mutter war bei Verwandten in Port Said, sie lebt jetzt dort.
Israelis haben meinen Vater getötet. Meinen Vater der im Laden seines Vaters, meines Großvaters, starb. Meinen Vater, der mehr als zweitausend Bücher in seinem Leben gelesen haben will. Ich versuche die Mörder meines Vaters nicht zu verabscheuen. Ich hasse sie, aber ich versuche sie nicht zu hassen. Neulich bin ich in Hamburg in einem Buchladen gewesen. Er wirkte groß und hell, zwei Etagen. Ich fragte die Verkäuferin wie viele Bücher hier stehen. Über Viertausend. Mein Vater hätte noch so einiges zu lesen gehabt. Ich griff mir Der Process, schlug es auf. Beinahe wütend. Ein Geistlicher sagt darin: „Die Schrift ist unveränderlich, und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.“

Ich stehe vor der alten Kommode im Schlafzimmer. Der Fensterladen vor dem Badfenster knarrt etwas. Ich habe ihn am Morgen nicht ordentlich befestigt. Der Wind von der Küste spielt mit ihm. Ich öffne die oberste Schublade der Kommode, schlage die kleine Decke zurück, dort liegt die Pistole. Jetzt werde ich mich töten.
Ich bin Theologe, dass bin ich noch. Ich war Pfarrer. Für eine kurze Zeit. Ich glaube an etwas, an etwas das größer ist als ich, als die Menschen. Ich nenne es Gott.
Ich glaube dass Glaube etwas Großartiges ist, etwas Persönliches und etwas eigentlich Unbeschreibliches. Ich habe mein Leben damit zugebracht es zu beschreiben: Es geht nicht. Soll wahrscheinlich nicht gehen. Dessen bin ich mir sicher.
Was geht, ist aus Glaube Religion zu machen. Religion ist, sich bei einem Konzert mit nur einer Note zufrieden geben.
Nehmen wir die Zauberflöte von Mozart. Das ist der Glaube den ein einzelner Mensch hat. Jeder hat seine eigene Zauberflöte. Nun ist Religion als würde man aus der genialen Komposition von Mozart nur eine einzige, vielleicht eine hohe, eine schrille und laute Note herausnehmen und jedermann verkaufen, dies sei die wahre Zauberflöte, die musst du hören.
Religion ist organisiert, gesponnen wie ein Teppich, verknüpft und arrangiert zur besseren Lenkung. Ein Konzern. Zu groß um komplex zu sein. Es werden Regeln aufgestellt, den „Gläubigen“ wird ihr Glaube genommen und durch Religion ersetzt. In der Gruppe fühlt sich ein Mensch immer wohler als alleine.
Ich bin jetzt siebzig Jahre alt. Ich habe meine Erfahrung gemacht. Mein Leben lang habe ich das studiert, Religion und Glaube. Als ich die starren Regeln der Kirche kritisierte, wurde ich exkommuniziert. Ich glaube immer noch. Religiös bin ich nicht. Mein Glaube ist stark, er hilft und führt mich. Weil es mein Glaube ist, kann mich nichts erschüttern. Keine Karikatur von Jesus verärgert mich, ich lache oft darüber. Da niemand weiß wie mein Glaube aussieht und ich selbst kaum Worte finde, wie soll sich jemand darüber lustig machen?
Zuflucht, Nächstenlieben und Hilfsbereitschaft sind die Aushängeschilder der Kirche. Aber was ist sie anderes als Benzin. Sie treibt dich an, gibt dir Kraft, aber zu welchem Preis? Sie frisst auf, vernichtet und verzerrt, weil sie es muss. Sie muss sich erhalten, muss wachsen, dass Kapital sind die Gläubigen. Sie sind der Marktwert. Ein Unternehmen. Mächtig und groß.
Ich habe einen Sohn. Er ist jetzt etwas älter als ich war, als ich aus meiner Pfarrei entlassen wurde. Er ist nicht religiös, nicht einmal getauft, aber er glaubt. Er glaubt nicht das gleiche wie ich, aber er glaubt.
Das was ich nun vorhabe verbietet die Religion. Mein Glaube tut es nicht.
Ich bin einfach zu schwach um weiter zu machen. Ich habe versucht die Kirche zu reformieren, habe geschrieben, gebellt, an die Mauern geschlagen und geschrieen. Es nützte nichts. Nun will ich es beenden.
Wieder höre ich das Knarren des Fensterladens im Wind. Ich bedecke die Pistole wieder und schließe die Schublade. Noch bin ich nicht fertig. Noch nicht schwach und feige genug.

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