Archiv der Kategorie: Über die Welt

Wie Tupac, Falco & Johnny Cash

Kürzlich kam eine Studie raus, die statistisch nachzuweisen versucht, dass treue Männer intelligenter als untreue Männer sind. Oder andersrum. Außerdem sind intelligente Menschen öfter ungläubig, also nicht „ungläubig“-ungläubig, sie glauben eben nicht an Gott. Da dies gesagt ist, sage ich nur noch das: Ich bin treu und Gott gibt es nicht!

Und an Wiedergeburt glaube ich auch nicht. Da bin ich aber wohl der Einzige: Drei neue Alben sind draußen. Von drei Künstlern die tot sind. Nachgewiesenerweise. Drei Künstlern, na ja nennen wir sie Musiker, also von Musikern die ich sehr bewundere, bewundert habe. Als sie noch lebten, und bevor die grabräuberische Plattenindustrie sich ihrer B-Seiten-Überreste bemächtigte. Nicht jeder Pop-Star gehört nachinterpretiert wie Beethoven oder Mozart, von denen immerhin im Jahr gefühlte tausend neue CDs rauskommen. Und wer will schon das „Rock me Amadeus“ in hundert Jahren noch von flinkfingrigen Chinesen, deren Vorname genauso ‚lang’ wie ihr Nachname ist, am Piano nachinterpretiert wird? Oh Herrgott, vergib mir dieses Wortspiel … ehm, hab’ ich Herrgott gesagt? Ich meinte … niemand.

Erfreulicher ist da die Nachricht dass der Papst jetzt doch was gegen Missbrauch der „so called“ ‚Schutzbefohlenen’ hat. Oh, wie ich die Kirchen liebe. Gerade wenn man als liberaler, sozialdemokratisch erzogener und die Basisdemokratie anstrebender Häretiker denkt, endlich haben wir alle Gnostiker vertrieben und sind vollkommen säkular … dann donnern die Kleriker mit 1,5 (oder wie viel auch immer) Promille zurück in die Öffentlichkeit, erklären dem Staat mit donnernder Faust und Gischt vor den schiefgebeteten Zähnen, sich raus zuhalten und richten die ihren und sich selbst nach eigenem Ermessen. „Talk about“ Parallelgesellschaften!
[Anmerkung in eigener Sache: Ich muss das wirklich lassen mit diesen englischen Redewendungen, außerdem sollte ich mal an Fremdwörtern sparen, so krieg ich das Diplom auch nicht schneller.]

Eine andere Parallelgesellschaft ist der Feuilleton. Ich meine „das“ Feuilleton. Fuck you, Word 2007! Rote und grüne Zickzacklinien, seit wann lass ich mir eigentlich von so was mein Schriftbild diktieren?
Also „das“ Feuilleton. Das Feuilleton? Ich finde nur wirklich wichtige Dinge sollten „das“ heißen, und sollten so den Ritterschlag der Sächlichkeit bekommen. So wie „das“ Kino. Das Brandenburger Tor. Das Ekzem. Na ja, war gut das ich mit Linguistik aufgehört habe. Zurück zum (danke) Feuilleton:
Jemand im „Business“ hat mir mal erzählt das nur 11% der Zeitungsleser den ‚Kulturteil’ überhaupt aufschlagen. Meistens sind es Leute die selber im Kulturbetrieb arbeiten oder an dessen schattenhaftem Rand. Diese liefern sich nun, was im Fachjargon eine „Schlammschlacht“ heißt über Axolotl. Ich musste es erstmal wikipedien … wikipediaen … erstmal bei Wikipedia eingeben … (Google, diese Schweine, den perfekten Namen für das perfekte Verb): Es ist ein Lurch.
Für mich sieht das Wort aus wie eine Abkürzung für „Hugs and Kisses“ und jemanden der laut auflacht, aber scheinbar ist es ein Lurch (was den „Roadkill“ auch verständlicher macht).
Keine Ahnung was das mit einer überprivilegierten Göre aus Berlin zu tun hat, aber es hat. Jedenfalls sind irgendwie alle für die junge 17-Jährige … manche auch nicht, die werden dann aber ganz schnell runter gemacht, mit Argumenten wie „auch Bertold Brecht hat abgeschrieben“ oder so was. Wahrscheinlich hat er das sogar. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass Brecht mehrere junge – ich nenn sie mal – Schreibsklavinnen / Schrägstrich / Sexsklavinnen hatte, also keine echten Sklavinnen, die er im Keller seines Hauses, nein, dass machen nur Österreicher, nein, ich meine willige und freiwillige junge Literaturstudentinnen oder andere Schreiberinnen, die alles für ihn getippt haben, was er wollte und er, also Brecht, konnte dann, was er wollte, unter seinem Namen veröffentlichen. Bestimmt war es so, die haben doch sowieso nur getippt und gefickt im Osten (uhoh!), hatten ja nichts, jedenfalls kann ich mir das gut vorstellen, schließlich war der olle Berthold so was wie Robert Pattinson heute, nur das er geschrieben hat und nicht halb so weibisch aussah.
Wo war ich: Ah ja, Helene. Ach, nein.
Das Ding ist, und ich fasse es nicht das ich einen geschriebenen Satz mal so beginnen würde, aber bei mir ändert sich ja sowieso der Stil gerade, also egal: Das Ding ist, das Abschreiben, Gedanken, Worte, ganze Sätze oder gar Absätze zu klauen, bestimmt nichts neues ist. Es gibt sogar eine Diskussion darum, ob nicht Darwin der Erfinder des „Darwinismus“ ist, sondern ein Typ namens Alfred Russel Wallace, was Darwin dann zum Erfinder des „Wallaceismus“ gemacht hätte, was wiederum dumm klingt und irgendwie ist es ja auch egal.
Es ist der spezielle Gedanke der zählt. Viele Leute reden dieser Tage, oder schreiben in den eckigen Klammern die „das“ Feuilleton ist, über Urheberschaften und das alle bei allen abschreiben. Aber wie von alleine finden große Werke, große Ideen immer zum richtigen Namen, selbst wenn die Namen die Patente abgeben, wie Tesla zum Beispiel. Am Ende geht es nämlich nicht ums Abschreiben, es geht um die herausragende, die neue Idee. Das einzigartige Element, welches man nicht vortäuschen kann, welches man hat. Die Tatsache dass über das Lurch-Buch nicht anders, als im Streit über die Urheberschaft berichtet wird, lässt mich zweifeln dass dort so ein einzigartiges Element versteckt ist. Es ist nur ein Buch unter vielen Büchern. Von einer nicht mal ganz post-pubertierenden, mittlerweile und unter den Augen von hunderten Journalisten erst kürzlich, achtzehn Jahre alt gewordenen Autorin geschrieben.
Ich geh’ davon aus, gäbe es nur einen interessanten, einen neuen Gedanken (und ja, die gibt es. Nicht alles ist schon mal da gewesen, dass merkt man allein daran wie Ideen einen ansprechen), gäbe es also auch nur eine unikäre Seite im Lurch-Buch, niemanden würde es interessieren von wem sie den Rest abgeschrieben hat.
Ein Beispiel? Ihr fragt nicht, ich antworte trotzdem. Die Geschichte von Matrix, all der Auserwählte und künstliche-Intelligenzen-übernehmen-die-Welt-Kram, all das war schon lange vorher da. Auch dieser Bullet-Time-360-Grad-Kamera-Bullshit sieht heutzutage blöd und altbacken aus. Trotzdem hat dieser Film etwas Einzigartiges. Und deswegen dürfen diese beiden Freak-Brüder jetzt jeden Scheiß ins Kino bringen, eben deswegen. Genauso wie Günter Grass, der nach Waffen-SS plötzlich von der Stasi verfolgt wurde und sich so in den Gehirnen rehabilitieren will: Warum geben wir einen Dreck? Weil die Blechtrommel nun mal eines der besten Bücher in deutscher Sprache ist. Das merkt man übrigens bis in den Film hinein.
Und so geht es hunderten und tausenden anderen Werken auch. Sie sind einzigartig, besonders und deswegen lesens-, guck- oder hörwert. So wie Johnny Cashs letzten fünf Alben. Country in Schwarz. So wie Falco, jedenfalls als er noch lebte und so wie Tupac. Den würde doch niemand unzählige Male wieder auflegen und sampeln, wenn er nicht einzigartig gewesen wäre. Bücher, Filme, Lieder, Bilder, Comics … Natürlich klauen die Menschen wie wild, aber wer klaut ist selber schuld. Weil das Level einer geklauten Idee kannst Du nie halten.
Und wenn man doch von Diebstahl redet: Dann ist das Neid. So wie mein Neid auf den Feuilleton.
Gott, würde ich gerne dazugehören.
Und Gott sei Dank tu ich es nicht.
Ach ja, es gibt ja keinen Gott.

Fast Erwachsen seit fast zehn Jahren (in Berlin) [verfasst am 4. Februar]

Zum Aufwärmen ein wenig Alltagspoesie:
Der Zeitgeist in Berlin scheint dieser Tage das Knirschen unter den Schuhen zu sein, welches bis in die hintersten Regalgänge bei Kaisers den Streusplitt trägt. Schneeweiß wird zu Matschbraun, nur um dann als Dreckschwarz zu verklumpen. In Festungsstärke umrankt so die Schmutz gewordene Wintererinnerung Stromkästen und Laternenpfeiler. Einzig die Gewissheit das es irgendwann weg sein wird, dass trübe Zeug, einzig das erhält den Kampfgeist. Aber: Genug der Trauermär.

Ich lebe, atme, laufe und arbeite auch ab und an nun seit knapp 10 Jahren in Berlin. Na ja, bald sind es neun, doch das Aufrunden gefällt mir: Mit fast 29 bin ich knapp 30 und mit 1 ½ Zimmern und raus aus der WG bin ich schon fast erwachsen.
Es ist anders, als es vor knapp zehn Jahren war. Wohnungen sind beinahe immer noch gut zu kriegen, aber eben nur beinahe. Und das obwohl man beinahe die gleichen Ansprüche wie vor 10 Jahren hat, beinahe jedenfalls.

Vor knapp 10 Jahren hab ich auch deutlich mehr ferngesehen, soweit die gute Nachricht. In der WG, am Sonntagmorgen die Spiegel-TV-Dokumentationen oder Samstagnacht MTV. Heute guckt man kein MTV mehr, was nicht zuletzt daran liegt das dass „M“ schon lange für alles nur nicht für „Musik“ steht. Aber darüber haben sich schon schlauere Menschen als ich aufgeregt. Was mir allerdings neulich spanisch vorkam, war die MTV-Werbung für den sendereigenen Teletext, ganz so als wäre das eine brandneue iPhone-App. „Alle Tourdaten, Deiner Lieblingsband, ab Text-Seite 800!“ Jetzt muss MTV nur noch rauskriegen wie man über Teletext die Konzertkarten direkt kaufen, dass Konzert bewerten, sich Samples der Lieblingsband anhören und mit anderen Fans chatten kann, schon ist das Internet wieder geschlagen.

Vor knapp 10 Jahren war ich deutlich öfter draußen. Also nicht nur vorm Fernseher. Glaub ich jedenfalls. Gehört ja auch zum Erwachsenwerden, ein Drinnenmensch werden. Genauso wie sich einen Decanter zulegen. Leider passt der, mit seinem bescheuert-breiten Auswülstungen in kein Ikea-Regal. Immer steht er ein Stück raus. Und erwachsener als Ikea ist man dann doch nicht. Aber erwachsener als StudiVZ, oder Facebook, oder Xing, oder Twitter oder: Nein. Jeder ist bei Facebook. Und jeder ist im Stress. Gerade in Berlin. Und gerade auch, wenn man so viele Jobs in den „Neuen Medien“ auf so viel mehr Leute verteilt. Und die Leute leben dann auch alle noch in der gleichen Stadt und dort oft auch in der gleichen Straße. Also wird die Aufmerksamkeit, die „soziale Netzwerke“ (irgh, diese Wort!) erfordern, ungeheuerlich. Man ist nur mit „checken“, verlinken und Status-updaten beschäftigt. Wer nicht teilnimmt, der existiert nicht. Und wer nicht existiert, der nutzt Berlin nicht. Irgendwann gibt es dann auch ein Fach „Social-Network-Science“, und … ach. Wahrscheinlich gibt es das schon längst. Wie lange hab ich schon nicht mehr ins KVV gesehen. Aber beenden wir die neo-mediale-pseudo-wissenschaftliche Beredsamkeit:

Erwachsenwerden, erwachsen sein und das seit nunmehr fast einem Jahrzehnt war das Thema. Nun: Ich reg mich nicht mehr so sehr über schlechte „Wetten dass …?“ – Sendungen auf. Die sind aber auch sehr viel besser geworden. Ja, wirklich.
Vor knapp zwei Wochen ist J.D. Salinger gestorben. Im „Fänger im Roggen“ wird nur sehr wenig über Thomas Gottschalk philosophiert. Aber über den Wunsch immer Kind zu bleiben. Ich wollte dagegen immer Erwachsener sein. Und das nicht erst, seit ich wusste das man dann in die Ab-18-Abteilung der Videothek darf. (Natürlich die Ab-18-Abteilung in der die Horrorfilme stehen, nicht die Pornos.)
Ich wollte erwachsen sein, weil meine Eltern und die Erwachsenen im Allgemeinen, alles so viel besser im Griff zu haben schienen. Es sah leicht aus, so leicht. So wie No-Look-Pässe bei LeBron James leicht aussehen.
Ähnlichen Erfolg wie mit den No-Look-Pässen hatte ich dann auch mit dem Erwachsensein. Es ist scheiße-schwer, ehrlich gesagt. Gerade in Berlin. Die Kultur die man sich eingerichtet hat und in die man gerne abtaucht, mit Kneipen, Kinos, WG-Partys und viel, viel, viel Ablenkung, machte das Kind-bleiben so unglaublich einfach. Dabei alterte man aber ganz von alleine. Jetzt hab’ ich schon graue Haare an den Schläfen. Echte graue Haare und Geheimratsecken. Nicht viele, aber sie stechen heraus wie Singles beim Tanzkurs. Die grauen Haare, meine ich, nicht die Geheimratsecken.

Ich mag Berlin. Ich mag es im Winter, auch mit Matsch und Knirschen, und ich mag es im Sommer, wenn ich mich über Flip-Flops aufregen kann. Ich mag die Stadt die jetzt meine Stadt ist, ohne das ich auch nur eine familiäre Bindung zu ihr hätte. Die Stadt ist mein Freund und als solcher drängt er mich nicht irgendwas zu erreichen, er ist einfach da. Das ist Berlin.
Endlich hab’ ich nun auch mein erstes Weihnachten hier verbracht, und bin nicht zu meinen Eltern (nach Hause) gefahren. Ein großer Schritt.
Ja, ich bin ein Zugezogener, aber ein Glücklicher und einer der auch Bezirke wie Charlottenburg oder Wilmersdorf schätzt. Ich würde da nie hinziehen, aber ich schätze die Bezirke. Ich mag Leute die da herkommen. Es sind eben ein paar Leute mehr, die Berlin so zur Metropole machen.

Und ich mag Berlin weil ich hier machen kann was ich liebe. In vielen Teilen des Landes wäre ich unbeschäftigt, bis uneinstellbar. Wer braucht schon einen wie mich. Berlin braucht mich nicht nur, hier darf ich sein. Ich bin eine rare Spezies, hier ist mein Habitat. Das ist vielleicht arrogant und eingebildet und vielleicht belüge ich mich selbst, aber mal ehrlich: Auch ein Kapitän würde niemals in die Berge ziehen.

Wachstum, Reife, Erwachsenwerden ist aber nicht nur sein, es ist werden. Es ist eine Sendung. Ganz so, als hätten einen die eigenen Eltern mit einer art Programmierung versehen: Irgendwann kommt die durch. Die Rebellen, die Selbstverwirklicher, euch meine ich: Irgendwann kommt die Programmierung durch, kommt die Elternerwartung auch bei euch an. Und es ist eine Elternerwartung, im Teekässelchen-Sinn des Wortes. Älter werden und Eltern werden. Jetzt ist es da, so wie der Frühling, aber noch hab’ ich Winterschuhe an. Ich wünsch mir für dieses Jahr ein bisschen Wachstum. Einen erwachseneren Umgang mit Berlin, einen erwachseneren Umgang von Berlin mit mir. Und das ist keine Metapher. Sei ein bisschen weniger Kumpel, Berlin. Ich brauch’ das jetzt. Danke Dir, bis bald.
Dein Floris.

Mein subjektives Empfinden

Mir ist aufgefallen: Der Eintritt in die Neue Nationalgalerie ist teurer als der Eintritt in die Alte Nationalgalerie. Was mich zum Vergleich brachte: Das ist so, als wenn „Die Gefährten“ auf DVD billiger ist als „Die Rückkehr des Königs“ oder „Episode I“ teurer als „Die Rückkehr der Jedi“, was zu bedauern wäre. Allerdings: Es ist nicht wahr. Kein „Herr der Ringe“-Teil ist teurer als ein anderer. Und am allerbilligsten sind die sowieso in der 3-Teile Vorratspackung. Und der Grund warum ich in der Neuen Nationalgalerie mehr bezahlt habe ist: Ich hatte meinen Studentenausweis vergessen. Das ich ohne den eigentlich gar nicht hätte BVG fahren dürfen … na ja.
Der Punkt ist: Ich war in der Neuen Nationalgalerie. Ist schon ne Weile her, aber ich war da. Und es war toll.
Was soll ich auch anderes sagen. Mag man keine Kunst, oder das was alle für Kunst halten, wird man mit einem Lächeln und als dumm abgespeist. Mag man Kunst, reicht das noch lange nicht. Alles zu mögen geht sowieso nicht. Man muss schon eine eigene Meinung haben. Newman, Braque, Dix oder Beckmann. Auf keinen Fall Picasso, auch Dalí ist viel zu schnöde, so was schickt sich auf WG-Toiletten, aber als Kunstgeschmack … und schon gar nicht Werke verschiedener Künstler mögen und auf keinen Fall was schön ist. Besonders nicht weil es schön ist. Schön ist eben nicht schön, wenn die Leute die entscheiden ob es schön ist, niemals Worte wie „schön“ oder „chic“ gebrauchen, sondern etwas stets nur „inspirierend“ oder „dramatisch die junge Szene aufrüttelnd“ finden.
Ich kann mit aufrüttelnd die meiste Zeit nichts anfangen. Manchmal muss es eben Law & Order sein und nicht Dexter.
Ich mag kubistisch verschlungene Gesichter neben einem Bild voller Uhren dem Aussehen nach, sonst aus keinem anderen Grund. Ich mag auch eine Skulptur aus Badekugeln, wenn sie mein ästhetisches Empfinden anspricht. Aber ich kann eben nicht sagen was ich mag, ohne es zu sehen. Ich weiß ich mag Explosionen im Film, aber den zweiten Rambo fand ich trotzdem beschissen. Ich mag gute Dialoge, aber bei Eric Rohmer krieg ich Angstzustände. Manchmal mag ich große Gemälde, wie den „Mönch am Meer“, manchmal kleine Zeichnungen, nicht mehr als drei Striche, ganz der späte Picasso. Und Museen, Museen mag ich.
Das ist keine Frage von Empfinden, es ist eine Frage von Sendungsbewusstsein. Ich will dass alle Menschen in Museen gehen und gehen können.
Wenn in Falludscha wieder die Straßen befestigt sind, jeder Trinkwasserzugang hat, ein Dach über dem Kopf und die Kinder wieder zur Schule gehen, dann muss da als nächstes ein Museum hin. Irgendwas mit viel Kunst. Die muss ich nicht mal mögen, kann auch ein Militärmuseum sein. Wappen & Wimpel, von mir aus. Aber in einem Museum eben. Dort predigt keiner, niemand wird angeklagt, von niemandem wird Ablass verlangt oder zum Mord an den Ungläubigen aufgerufen. Kunst muss gefördert werden und wieder erreichbar sein, muss vorgeführt werden. Und wenn man eine Kooperation zwischen Madamme Tussauds und dem MoMa hinkriegt und dadurch vielleicht ein Germany’s Next Topmodel-Fan auch mal an ein paar dadaistischen Montagen vorbeiläuft und dann vielleicht, nur für eine Sekunde, stehen bleibt und denkt: „Cool.“ Das ist es wert.
Es wird immer Kreise von Experten geben, Logen, Lobbys und Gespräche in Hinterzimmern. Kritiker und Fachleute werden sich immer außerhalb der Gesellschaft treffen, bezahlt vom Jedermann. Und das ist auch gut so. Die Bücher die die schreiben muss niemand verstehen, es reicht wenn ein paar Studenten das lesen, und genauso wenig verstehen. So lange Museen da sind und wir gezeigt bekommen was dort drinnen ist, und es so unterschiedlich wie Pepsi und Cola ist: Das reicht. Kunst muss in die Schulen, es muss über die Deutung des letzten Abendmahls genauso geredet werden, wie über den sterbenden Genitiv. Deutung muss erklärt und beigebracht werden, wozu ist Kunst sonst gut. Wer deutet schießt nicht auf Leute die eine andere Meinung haben, er argumentiert, mal werkimmanent, mal historisch oder biografisch.
Dann hab’ ich auch keine Angst mehr vor der Verrohung der Gesellschaft durch zu extreme Horrorfilme (mag ich doch selber), wenn in Museen gezeigt wird was Schönheit ist, was Kunst ist, da geht das schon klar.
Jugendliche und Querdenker werden sich immer unverstanden und ausgeschlossen fühlen, sowohl in der Pubertät wie auch im Leben sonst. Aber wenn sie „Der arme Poet“ sehen, sehen sie sich verstanden. Es gibt tausend Filme die es zeigen wollen, aber keiner zeigt es so genau wie dieses Bild. Das Los der Einsamkeit in Hingabe zum Wort, zum Gedanken, auf 36 mal 45 Zentimeter in Öl. Und wenn dann ein pubertierender Jugendlicher, der tausend und ein Liebeslied für eine unerreichte Schönheit geschrieben hat, kurz vor der Aufgabe, dieses Bild sieht: Ich bin mir sicher, das Verständnis (die Erkenntnis!) reicht um durchzuhalten. Naja, nicht um durchzuhalten, aber vielleicht um den einen oder anderen tief traurigen Roman zu schreiben (vielleicht nicht unbedingt abschreiben: Hörst Du, Helene, ja Dich meine ich. Ein bisschen mehr Einfallsreichtum bitte, da hilft auch der Haassche-Zuspruch nichts, klar?!). Und irgendwann wird der tief traurige Jugendliche, mit einem frischen Ullstein-Preis unterm Arm, eine Literaturstudentin treffen (die Groupies des hadernden Texters), sich neu verlieben und glücklich werden. Danke, Carl!
Aber es muss nicht immer ein Spitzweg sein: Ein Mann in einer Midlife-Crisis kann, bei einer Live-Performance auf der Kastanienallee, bei der durch die Ausscheidung von Kot und Urin in einen gewöhnlichen Aluminium-Eimer von der Darstellerin direkt und live die Vergänglichkeit und die unbedingte Konzentration allen Seins auf Stoffwechsel vorgeführt wird, bei dieser Performance kann unserem Midlife-Mann klar werden: „Haha. War alles umsonst. Ich muss leben um nicht tot zu sein.“ Und wieder jemand glücklich, oder glücklicher. Alles durch Kunst.
Wer bin ich, dass ich mein subjektives Empfinden und meine Abneigung gegenüber Live-Performance jemandem aufdrücke. Ich will die Freiheit für „Family Guy“, also gibt es auch Freiheit für Fäkal-Performance. Und es gibt Fördermittel. Oh, ja. Fördermittel. Zieht den Stecker von Großprojekten wie „24h Berlin“. Doku-Soaps gibt es genug. Das Geld ist besser investiert in weit gestreuten Kultur- und Kunstfonds. Aber, und das bleibt noch zu begreifen, die Diversifikation – schweres Wort, auch zu schreiben – muss überall hin, nicht nur dort wo am Ende der gemeine Förderheini die Jugend sucht und den Mammon vermutet. Ja, auch der Bushido-Film wurde gefördert, und nicht zu knapp. Vielleicht werden die Förderer aber auch einfach nur müde das Geld nicht mehr wieder zu sehen. Könnte man meinen. Andererseits: Bei Bushido wär doch jeder gerne eingestiegen. Geld-Zurück-Garantie, mit Gewinnmarge inklusive.
Aber wo war ich? Mein subjektives Empfinden. Ich mag Museen, weil ich mich dort wieder finden kann, genauso wie im Horror A bis K Regal in der Videothek und in der Science-Fiction und Thriller Ecke bei Dussmann. Für dieses Jahr will ich lernen niemanden, der vor mir an der Kasse von Saturn eine Schlagerhits-CDs kauft, naserümpfend mit Kopfschütteln zu betrachten. Für alle anderen gilt das gleiche. Und, ach ja: Museen sollten umsonst sein, ich fordere die Kunststeuer. Guten Abend.

Han

Es ist kurz vor Ende Januar. Die Straßen der Hauptstadt, der Länder und sowieso alle stecken im tiefsten Schnee. Bushido bringt einen Film zur Berlinale, oder bringt die Berlinale Bushido ins Kino. Ein Film in dem sich Bushido selber spielt, in einer Geschichte über sein Leben. Bushido wird zitiert und sagt: Du brauchst Respekt, sonst bist Du ein Opfer, oder so ähnlich. Kurze Begriffsklärung: Opfer ist ein momentaner Zustand. Man wird Opfer eines Gewaltverbrechens oder einer unfähigen Regierung. Die FDP hofiert die Opfer des Schneechaos, die Hoteliers. Hoteliers in Spanien, gerade die auf dem Land, werden bald ein weiteres Gimmick auf ihre Websites und auf ihre Flyer schreiben können: Mit tollem Blick auf das atomare Endlager. 500 Millionen kriegt das Dorf, welches am Ende den Zuschlag erhält, wenn es in der Nähe von Kinderspielplätzen, Sporthallen und Schwimmbädern strahlendes Material hinter Stahlbetontüren verschließt. Und es bewerben sich viele. Ein kleines hessisches Dorf, ja genau, hat vor ein paar Jahren 5 Millionen für ein Gefängnis bekommen. Beworben haben sich da auch viele andere Dörfer. Billig die Hessen. Gefängnisse, Endlager und Stahlspitzen in Dubai werden gebaut. Ein neues World Trade Center haben sie noch nicht mal angefangen. Eine Brücke zwischen Italien und Sizilien bauen sie auch. Berlin wollte ein Riesenrad, oder haben die das schon? Schulen, Kindergartenplätze, Vorurteile über Minarette ab oder weniger subventionierte Sojabohnen anbauen … Gene Hackman ist Achtzig geworden. Sein letzter Film war vor sechs Jahren, eine Komödie mit dem Typen von „Alle lieben Raymond“. Ein paar Jahre vorher hat er „Runaway Jury“ gemacht. Dort begegnet sein Charakter dem Gegenspieler auf der Toilette des Gerichtsgebäudes, beide streiten dann lächelt Gene abfällig und sagt: „Oh. I get it now. You are a moral man, living in a world of moral relativity.” Hackmans Gegenspieler spielt sein alter Kumpel Dustin Hoffman. Am Ende gewinnt natürlich nicht Hackman. Immer wieder hat er Opfer gespielt, Loser. Mit Respekt hat Verlieren nichts zu tun. Ich hab’ nicht automatisch Respekt für Bushido, warum auch, ich kenne ihn ja gar nicht. Ich hab’ auch keinen Respekt vor der schwarz-gelben Regierung, jedenfalls jetzt nicht mehr: Einfach uralte Atommeiler weiterlaufen lassen? Ihr seid echt taub nach Stockholm gefahren!
Spanien kann dann bald zu wirtschaftsfördernden Preisen den Atommüll für uns einlagern. Wenn dann mutierte Zombiehorden aus dem Südwesten einfallen, brauchen Viele von uns keinen VHS-Kurs mehr um sie zu verstehen: Spanisch ist die beliebteste Fremdsprache unter den 18 bis 27jährigen. Nach Spanien selber will ich jetzt nicht mehr.
Ich will das Bernd Eichinger wieder einen Film wie „Im Namen der Rose“ produziert, von mir aus können dann auch Moritz Bleibtreu und Hannelore Elstner wie einst Sean Connery und Christian Slater zusammen spielen, Regie bitte nicht Uli Edel, oder doch, aber dann der Uli Edel der „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ gemacht hat.
Ich will auch kein Opfer sein. Natürlich nicht. Ich will sagenhaft gute Kritiken kriegen, egal für was. Respekt von den Mächtigen, von mir aus. Aber wenn nicht: Auch nicht schlimm. Ralph Nader hat, glaube ich, drei Mal kandidiert um Präsident der USA zu werden. Er hat nie gewonnen (2 komma irgendwas war wohl sein bestes Ergebnis). Ich habe großen Respekt für ihn. Richtig großen sogar. Wenn Du verlierst, und Du glaubst an Deine Sache, dann sorg dafür das es auffällt. Ich kann nicht beeinflussen ein Opfer zu sein, ich versuche es zu vermeiden, manchmal handle ich wider besseren Wissens und schalte nicht um wenn „Wetten dass…?“ läuft, aber die meiste Zeit ist man ja doch klar im Kopf. Aber wenn man Opfer wird, hat das nichts mit fehlendem Respekt zu tun. Sowieso kümmern sich alle immer viel zu sehr um den Respekt, dieses männlichste und brachialste aller Wörter, na ja nicht aller Wörter, Waffen-SS klingt immer noch deutlich brachialer …
Apropos Wörter die klingen: Im Koreanischen gibt es das Wort „Han“. Das ist schwer zu übersetzen, allgemein bedeutet es Schwermut, Geschlagenheit, Traurigkeit und eine Last auf den Schultern. Aber dann ist da noch eine gewisse Hoffnung, etwas keimt auf und das Wort scheint seine eigene Melodie zu haben, die am Ende doch zuversichtlicher wird.
Ich verliere vielleicht, vielleicht schaffe ich es nicht mich aus der Opferrolle gegenüber der neuen Regierung heraus zu klauben, aber ich muss nicht Opfer der Bushido-Biografie werden und Respekt verdiene ich mir auf meine eigene Art. Ich hab’ hier lange nichts mehr geschrieben, genau damit fange ich an. Ich ändere mich.
2010 hat gerade begonnen. Das wird ein gutes Jahr, ich weiß es, ich mache es dazu.

Vitamine

>>Ich ließ die sonstigen Makel der Welt von mir abfallen wie Blätter im Herbst, ohnehin war vor dem Fenster die Welt in matschgraue und erdtonartige Vielfarbigkeit getüncht. Selbstlos ergaben sich mein Hund und meine Katze in einen Reigen der zu meinem Gemüt passte. Ich hatte sie beide in friedlicher Koexistenz aufgezogen, die Katze übernahm selbstredend die strenge Funktion der Mutter. Der Hund lechzte nach der üblichen Aufmerksamkeit die sonst nur frühlingsfrisch Heranwachsenden zuteil wird. Mir war beides recht.>Lichterloh brannte mein marmorierter Plastilin-Schrank. Mir hatte das Muster nicht gefallen, also hatte ich ein Streichholz bemüht, und dann noch eines und noch eines, bis das Möbelstück in Flammen stand. Annähernd zweitausend Grad Temperatur hat ein solches Zündholz, wenn man es an der phosphorierten Seite der Schachtel anstreicht. Annährend zweitausend Grad. Katalysiert man dieses Anstreichen durch mehrere Zündhölzer in Reihe, so lässt sich für einen kurzen Moment die Hitze spüren, die zum Beispiel ein Verbrennender auf dem Scheiterhaufen erdulden muss, oder auch ein Buch auf demselben. Vor ein paar Jahren wurde in einem Dorf in Sachsen-Anhalt bei einer Sonnenwendfeier das Tagebuch der Anne Frank verbrannt. Ein Tagebuch. Zu wenig Mut den Tanach, den Talmud oder den Koran zu verbrennen, aber sich an den Aufzeichnungen einer Minderjährigen vergehen. Vergewaltiger und Bücherverbrenner sollte man kastrieren, oder vor ihrer Haustür in Zeitungspapier eingewickelte Scheiße anzünden. Ich habe meinen Plastilin-Schrank wieder gelöscht und baue jetzt ein Vogelhaus aus den Überresten. Es wird nicht schön, ein Sozialbau für Stadtmeisen. Den Eingang mache ich extra klein, es müssen ja nicht alle Schmarotzer-Tauben Einlass finden. Ein wenig Arsch muss jeder sein.

Gravitas

Seegurke, schon mal jemand gesehen? Nicht nur ein furchtbarer Name, sie sieht auch noch so aus. Nach der Meinung einiger Wissenschaftler allerdings, gelingt der Seegurke das, wonach wahrscheinlich jeder strebt … jedenfalls jeder, der einen Gott-Komplex mit sich rum trägt oder irgendeine andere Art von Angst vor dem Verschwinden hat: Unsterblichkeit.
Ja, tatsächlich. Theoretische Unsterblichkeit. Hat irgendwas mit fortwährender Zellteilung zu tun und natürlich nur unter optimalen Bedingungen, so ungefähr wie damals Perry Rhodan. Relative Unsterblichkeit.
Und dann gibt’s da noch diese Quallenart, die ist so was wie der Wiederholungs-Benjamin Button der Tierwelt ist. Sie entwickelte sich ganz normal, aber ab einem gewissen Alter kann sie sich zurück in die geschlechtsunreife Jugend entwickeln. Wenn die das immer wieder macht, auch hier: Theoretische Unsterblichkeit.

Gratias tibi ago, domine

Pflanzen sind da auch ziemlich gut drin. Ein Mammutbaum in Kalifornien ist nachgewiesene viertausend Jahre alt. Denke mal nicht dass irgendjemand die Ausweispapiere einer Qualle überprüft hat. Viertausend Jahre. Dann gibt’s noch diese Espe in Utha, 800000 Jahre, die klont sich allerdings auch dauernd selber, deswegen.
Der älteste Mensch ist 1997 gestorben und wurde 122 Jahre alt. Sie war Französin, war ja klar. Man kann jetzt, über ein Tool im Internet, bereitgestellt von der Eduard Aeberhardt-Stiftung, seine persönliche Lebenserwartung berechnen. Oder man hält sich, wie jeder geistig gesunde Mensch, an die statistischen Mittelwerte und harrt der Dinge die da kommen, vielleicht wird man ja überrascht, vielleicht schläft man so auch besser.

Haec credam a deo pio, a deo justo, a deo scito?

Weltweit ist die durchschnittliche Lebenserwartung 65 Jahre. Am ältesten werden Menschen in Macao, in Japan und in Hong Kong, und liegen dabei mehr als fünfzehn Jahre über dem Durchschnitt. Deutsche werden im Schnitt 77,8 Jahre alt. Wenn also der achtundsiebzigste Geburtstag nahe rückt … aber das ist Statistik und ein Wert für die erste Welt. Die dritte Welt weicht ab. In Mozambique wird man durchschnittlich nur 42 Jahre alt. Genauso in Simbabwe, in Sierra Leone und auch in Afghanistan sieht es nicht viel besser aus. Gilt allerdings nur für Einheimische.
Die deutschen Soldaten, die neulich zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte in aktive Kampfhandlungen verstrickt waren, zählen deutsch, werden also 77,8 Jahre alt. Sag das mal den zivilen Verlusten. Vielleicht will man in der dritten Welt aber auch einfach nicht älter werden …

Cruciatus in crucem

Die durchschnittliche Lebenserwartung einer Frau in Saudi Arabien ist fast so hoch wie die in Deutschland. Nur das das Leben da nicht recht Spaß machen will.
Woher kommt das eigentlich, dass wir zu fast jedem Land auf der Erde gute wirtschaftliche Beziehungen pflegen? Und fast jedes Land der Erde will Beziehungen zu uns. Saudi Arabien ist nach eigener Aussage sehr interessiert an Deutschland, nicht zuletzt seit der Fußball WM. Man will die deutsche Sprache lernen, über 200 deutsche Unternehmen arbeiten dort. Literatur, Kunst, Musik, Theater? Not so much.
Warum auch. Wenn Bandits in Saudi Arabien im Kino laufen würde, würden sich alle wundern. Frauen dürfen dort nämlich nicht Autofahren. Ja, die absolute Monarchie ist schon einer feiner Platz. Wählen dürfen Frauen da auch nicht, was auch: Es gibt ja keine politischen Parteien. Gäbe es welche, würde sich vielleicht jemand dagegen wehren, dass Frauen dort einen gesetzlichen Vormund brauchen oder dass Homosexualität mit der Prügelstrafe, homosexueller Sex sogar mit dem Tod geahndet wird. Ich hoffe Guido bringt denen dort Brokeback Mountain auf DVD mit. Aber das Auswärtige Amt beschreibt die Beziehungen als freundschaftlich und spannungsfrei. Für uns vielleicht …

uus in terra servus, nuntius fui; officium perfeci

1985 war ich vier Jahre alt. Kohl war noch Kanzler und die Dire Straits brachten Brothers in Arms raus. Vielleicht wäre es Zeit für ein Sisters in Arms.
Auf eBay hat neulich eine junge Brasilianerin ihre Unschuld versteigert um ihrer Großmutter einen neuen Lungenflügel kaufen zu können. Auf Craigslist findet man Variationen davon jeden Tag.
Eine Textzeile aus Brothers in Arms heißt „And we have just one world, But we live in different ones”.

Cruciatus in crucem, eas in crucem

Jemand hat mir mal erzählt, dass junge, frischgebackene Pilot, wenn sie in eine dichte Wolke hinein fliegen, nicht ihren Instrumenten trauen. Sie schauen auf den künstlichen Horizont, er bleibt gleich, aber sie korrigieren die Maschine trotzdem nach Gefühl. Sie schauen auf den Höhenmesser, auf Neigungswinkel und auf alle anderen Anzeigen, trauen diesen Anzeigen aber nicht, und korrigieren. Die Anzahl von jungen, frischgebackenen Piloten, die auf dem Kopf fliegend aus dichten Wolkenbänken herausfliegt, würde jeden umhauen.
Vertrau dem Kurs, Greenhorn!
Und ein bisschen mehr Gravitas.

Schrei lieber lautlos (eine Geschichte in viel zu langen Sätzen)

Ohne sein typisches, viel zu lautes „Ahhhh“ nach dem ersten Schluck aus einem kalten Bier, stellte er die Flasche fasst passgenau auf das kreisrunde Schöfferhofer-Logo des quadratischen Bierdeckels. Er trank Becks, natürlich. Aber seine Gedanken waren nicht beim Bier, nicht beim kreisrunden Schöfferhofer-Logo, nicht bei der Ansprache die er noch vor zwei Wochen gehalten hatte, vonwegen das man auf einer blank polierten Theke eigentlich überhaupt keine Bierdeckel braucht.
Seine Gedanken waren nicht mal in dieser Kneipe.
„Alter. Du siehst beschissen aus.“
Sascha ließ sich neben ihn auf den Barhocker fallen und nahm sich seinen Jägermeister. Sascha bestellte immer einen Jägermeister. Zu jedem Bier. Ihm war schon oft der Gedanke gekommen dass Sascha wahrscheinlich Alkoholiker war. Jetzt nicht mehr. Jägermeister gehörte einfach zu Sascha, wie die strubbeligen Haare, die dunkelgrünen Augen und die kleine Narbe auf dem Kinn, die er sich als Kind am Beckenrand im Schwimmbad eingefangen hatte.
„Wie meinst’n das, beschissen?“, fragte er Sascha. Sascha zuckte mit den Schultern.
„Ich bin eben so vom Klo zurück gelaufen und da dachte ich mir: Was heute Abend wirklich hier nicht reinpasst … bist Du. Was is’n los?“
Um die Antwort zu umgehen trank er schnell noch einen Schluck. Das Becks schmeckte schal, irgendwie zu bitter und sonst nach nichts.
„Na?“, forderte Sascha seine Antwort ein.
„Ach.“
Für einen kurzen Moment dachte er über die Möglichkeit nach, sich mit Sascha für Stunden nur mit Zwei- oder Drei-Buchstaben-Worten zu unterhalten. Auf ein „Ach“ würde ein „Wat?“ folgen, dann ein ablehnendes „Nee“, ein aufforderndes „Hm?“, dann ein „Tz“ um das Thema zu wechseln, mit einem „Da“ würde man in Richtung des Fernsehers deuten, dann mit kopfschüttelnden „Ph“s und „Sch“s die Ergebnisse der zweiten Liga vom Sonntag kommentieren … es könnte ewig so weiter gehen. Stattdessen sagte Sascha:
„Los jetzt! Jetzt bock nicht.“
Er musste grinsen.
„Okay.“, sagte er und nahm noch einen Schluck Becks um sich zu sammeln. „Ich hab’ Dir doch von diesem Mädel erzählt …?“
„Die mit dem dritten Nippel?“
Für einen kurzen Moment schien es ganz still in der Kneipe. Der Barkeeper drehte sich zu ihnen herum.
„Was? Welcher dritte Nippel?“ Es war ihm peinlich. Sascha grinste breit.
„Schon gut. Dieses Mädel also …“
„Ja.“, begann er erneut und Barkeeper und Lautstärke der Kneipe kehrten wieder zu ihren gewohnten Beschäftigungen zurück. „Dieses Mädel das ich kennen gelernt habe. Ich glaub ich mag die.“
„Shit.“ Sascha sah ihn wirklich erschrocken an. So erschrocken, dass er beschwichtigend die Hand hob.
„Nein, nein. Das ist gut. Das ist doch gut, glaube ich. Wirklich.“
„Nein, nein.“, unterbrach ihn Sascha. „Ich glaube ich hab zuhause die Kaffeemaschine angelassen.“
„Was?“
„Ja, ja. Aber … egal. Erzähl weiter. Wenn die Wohnung abbrennt, dann ist das schon passiert.“
Er sah Sascha entgeistert an. Manchmal wusste er einfach nicht wie er mit diesem Typ umgehen sollte.
Sascha leerte derweil sein Bier im ersten Ansatz zur Hälfte, dann sah er ihn auffordernd an: „Du warst gerade bei dem Mädchen das Du glaubst zu mögen…?“
„Äh, ja. Also: Erinnerst Du Dich an den Film Swingers, den wir vor ein paar Monaten nachts in der Kurbel gesehen haben?“
Sascha nickte. „Der mit dem jungen Vince Vaughn, wo wir uns noch gefragt haben wie man so krass zunehmen und hässlich werden kann?“
„Genau der. Da gibt es diese Szene in der Jon Favreau in einer Bar die Telefonnummer von dieser Frau bekommt. Er war seit Monaten nicht weg, kommt gerade aus einer langen Beziehung und er weiß nicht wie er mit all dem umgehen soll.“
„Ja, ja. Ich erinnere mich.“ Sascha leerte im zweiten Ansatz das Bier fast vollständig. Wahrscheinlich musste man schon ein Profi sein, um ganz genau immer die Pfütze in der Flasche zu lassen, die potentiell Spucke enthält und ungenießbar ist. Sascha war ein Profi.
„Gut, also.“, fuhr er fort, während er weiter Saschas beinahe leere Flasche musterte. „Jon kommt noch in der gleichen Nacht nach Hause, es ist kurz vor Vier oder so, und er überlegt was er machen soll. Aus irgendeinem blöden Grund, weil er unsicher ist oder so, ruft er bei der Frau aus der Bar an. Natürlich geht nur der Anrufbeantworter ran, er legt schnell wieder auf, dann überlegt er es sich anders, spricht doch drauf, schafft es seine Nummer nur halb zu hinterlassen, ruft noch mal an, entschuldigt sich, ruft noch mal an, versucht alles wieder hinzu biegen, und ruft dann noch mal an, um ihr zu sagen: Sie soll einfach alles vergessen was er drauf gesprochen hat. Genau dann geht sie schlaftrunken ran und sagt ihm er soll nie wieder anrufen.“
Sascha winkte dem Barkeeper und dieser brachte ein neues Becks und einen weiteren Jägermeister. Wie er den Jägermeister vor Sascha so stehen sah, merkte er wie es in seinem Bauch arbeitete: Vielleicht war es zuviel Alkohol die letzten Tage gewesen. Er hob die Hand und bestellte eine Cola.
„Cola, ja?“ Sascha sah ihn stirnrunzelnd an.
„Ja. Mir ist schlecht.“
„Wie gesagt: Du siehst beschissen aus. Hast Du nicht geschlafen? Ist dieses Mädel daran schuld?“
„Nein. Aber was meinst Du zu der Szene aus dem Film?“
„Klingt lustig.“
„Nein. Meinst Du nicht das die einem was sagen soll?“ Langsam wurde er ungeduldig. Sascha musste doch merken worauf er hinauswollte.
„Die sagt uns: Niemals nachts telefonieren.“
„Ach! Nein. Es geht um Unsicherheit, Du Idiot.“
„Und Du bist unsicher weil Du dieses Mädel vielleicht magst.“
„Ich glaube ich mag sie. Das ist ein Unterschied.“
Sascha schüttelte verächtlich den Kopf: „Ach, scheiß doch drauf.“
„Auf sie?“
„Nein. Nicht auf sie. Scheiß auf diese Kategorien. Scheiß auf „vielleicht“ oder „ich glaube“. Man mag oder man mag nicht. Und wenn man darüber nachdenkt ob man mag, dann mag man auf jeden Fall.“
Sascha setzte den neuen Jägermeister an, kippte ihn runter und Sascha entfuhr genau jenes „Ahhhh“, was er vorhin nicht fertig gebracht hatte.
„Wie kannst Du nur soviel trinken und dann noch solche Sätze sagen.“, fragte er Sascha. Sascha grinste.
„Ich bin ein Naturwunder. Prost.“
Sascha stieß mit seinem zweiten Bier gegen das unberührte Cola-Glas und nahm einen großen Schluck.
„Ich mag wie sie neben mir läuft, weißt Du.“
Der Satz war ihm einfach so rausgerutscht. Vielleicht weil er seit zwei Tagen darüber nachgedacht hatte, vielleicht weil er jetzt daran denken musste. Aber nun war er raus.
„Du magst wie sie neben Dir läuft?“, wiederholte Sascha fragend.
„Ja. Ich mag ihre Hand in meiner Hand. Sie ist nicht zur groß – also, sie als Person, nicht die Hand – so muss ich meinen Arm nicht anwinkeln. Sie ist nicht zu klein, so dass ich sie irgendwie hochziehen müsste. Nein. Es passt ganz einfach. Ich mag wie sie neben mir läuft.“
„Oh mein Gott.“
Sascha leerte auch sein zweites Bier und wischte sich – fast schon comicartig – über den Mund.
„Wenn Du mir jetzt auch noch von ihren Augen erzählst …“
„Ich fands toll wie sie mich am Wochenende, als wir uns in diesem Club verabredet haben, von der Bar aus gesucht hat. Ich hab mich extra noch etwas hinter dem Kumpel versteckt, mit dem ich mich unterhalten habe, damit sie noch weiter sucht. Der suchende Blick war … war …“
„War toll! Ja, ich verstehe. Hör mal zu:“
Wie, um seine Worte zu unterstreichen, drehte sich Sascha auf seinem Barhocker zur Seite und blickte seinem Gegenüber tief in die Augen.
„Bitte versprich mir nicht wieder durchzudrehen.“
„Darum ging’s doch in der Szene aus Swingers, deswegen- – -“
„Ja, ja, ja. Du kannst noch so viele Szenen zitieren, die Dir angeblich zeigen wie das abläuft, aber das heißt nicht dass Du irgendwas weißt. Fakt ist: Du bist nicht dafür gemacht mit Mädchen umzugehen.“
„Ach. Das ist doch- – -“ Diesmal unterbrach Sascha den Widerspruch mit einem erhobenen Finger.
„Das ist überhaupt kein Schwachsinn. Das ist genau so. Tut mir leid Dir das so sagen zu müssen, aber es stimmt. – Erinnerst Du Dich noch an Hannah in der zwölften Klasse?“
Kurz blitzte Unsicherheit in seinem Blick auf, dann nickte er.
„Ja.“
„Da hast Du Dich aufs Schuldach gestellt und geschrieen „Ich liebe Hannah für immer!“. Das war nicht nur total peinlich, es war der Anfang vom Ende. Nach den Sommerferien hat sie Schluss gemacht. Du erinnerst Dich?“
„Ja. Ich erinnere mich.“
„Na also. Dann hör auf mich. Ich find das ja gut, dass Du laut schreien willst …“
„Ich will überhaupt nicht laut schreien.“, versuchte er zu protestieren. Sascha winkte milde lächelnd ab.
„Doch, doch, doch. Du willst. Und das ist ja auch ganz süß.“ Er verzog das Gesicht und Sascha schmunzelte über seine eigene Bemerkung. „Die meisten wollen schreien, wenn sie verliebt sind. Das ist doch auch das gute dran, aber ich sag Dir: Wenn Du’s nicht versauen willst … schrei lieber lautlos.“
Für einen langen Moment sagte keiner etwas. Sascha blickte nur konzentriert seinem Gegenüber in die Augen. Schließlich merkten beide dass es an der Zeit war die Stille zu durchbrechen. Sascha drehte sich wieder zur Theke.
„Und jetzt nimmst Du auch einen Jägermeister.“
„Irgh. Nein.“, antwortete er und griff sich an den Bauch, aber Sascha hatte dem Barkeeper schon gewunken. Sekunden später standen zwei frische, bräunlich-dickflüssig gefüllte Schnapsgläser vor den Beiden. Sascha hob sein Glas an und deutete sein Prost nur an.
„Auf Dich.“
„Auf Dich.“, antwortete er Sascha. Dann kippten sie beide runter. Noch am gleichen Abend musste er sich übergeben. Er war einfach noch nicht so weit mit Sascha mithalten zu können. Sascha meinte dazu nur: Soweit muss man auch nicht sein.

„Let’s hug it out, bitches.“

Neulich in der S-Bahn durfte ich folgendem Gespräch lauschen:
Sagt ein Typ zum anderen:
„Ey. Diesen Monat hab’ ich mehr Geld für Kondome ausgegeben, als für Benzin.“
„Aber Du hast doch gar kein Auto.“
„Trotzdem wahr.“
Danke für diese Einführung Jungs.

Die bestechende Logik, mit der momentan Ulla Schmidt ans mediale Kreuz genagelt wird, weil sie etwas getan hat, was jeder von uns ohne zu überlegen tun würde, ist so abgeschmackt das man BZ, Bild MoPo und selbst den Spiegel zum stopfen des Sommerlochs zerknüllen und nie wieder glatt streichen will.
Wenn wir jemanden kennen, der zum Beispiel das Haus seines Chefs – was an einem netten deutschen Binnengewässer liegt – über den Sommer hütet, dann gehen wir davon aus: Er lädt uns dahin ein, es wird gegrillt und getanzt und den ganzen Abend gefeiert. In einem Haus das nicht uns gehört. Oder wir haben selbst einen Dienstwagen und eine von diesen tollen Tankkarten, oder nur einen Leasingwagen mit einer Tankkarte. Natürlich fahren wir damit in den Urlaub. Das macht jeder. Das ist das deutsche Rabattdenken. Prozente sammeln, Umsonst kriegen, Einstreichen. In der Süddeutschen Zeitung war ein einziger, zweispaltig-kleiner Artikel über die Moralmesslatte die wir für Politiker anlegen. Eine Moralmesslatte der niemand entkommen kann und die – wenn gebraucht – eben nach Oben verschoben wird um wieder jemanden sie so richtig reißen zu lassen. Ulla Schmidt hat nichts falsch gemacht. Alles rechtens. Wirklich. Keine Übertretung, kein Schrittfehler, nicht mal den Schiri beleidigt … oder doch? Wenn wir, oder die BZ, der Schiri sind, dann ja. Wir lassen das nicht durchgehen. Niemand ist so Morgen geht’s zum Untersuchungsausschuss – wie viele wir davon schon verbraten haben (Murat Kurnaz hat es auch nicht geholfen) – weil die CDU und die PDS (Nein, ich sage nicht DIE LINKE, weil die verdammt noch mal nicht Links sind. Links ist, wer die bestehenden Staats- und Gesellschaftsstrukturen zugunsten einer Besserung überwinden will, wer eben einfach radikaldemokratisch ist. Nicht jemand der Reformen zurücknehmen will, die noch nicht mal im Ansatz ihre Wirksamkeit gezeigt haben (siehe Hartz IV) oder der der Judikative ihre Kontrollfunktion abnehmen will.) und die FDP und wer weiß ich noch alles sich über eine vollkommen legale Aktion aufregen. Als hätten wir sonst nichts zu tun. In einem Monat sind Wahlen und das einzige was mir gerade wirklich vor Augen schwebt ist Hape Kerkeling mit angeklebtem Bart, Trenchcoat und Herrenhandtasche mit Schlaufe. Die CDU freut sich den Kullerkeks während die SPD sich immer weiter selber reinreitet. Was da an Gallensteinen der Partei vorsteht ist aber auch zu farblos um überhaupt jemanden zu begeistern. Mich jedenfalls hat die Sozialdemokratie an die Always-Gutmenschen von den Grünen verloren. Da weiß man wenigstens dass einem nichts passiert, wenn die an die Macht kommen. Kommen die aber nicht. Eher noch wird es die gelbe Gefahr mit schwarzer Grundierung. Warum in einer Finanzkrise überhaupt jemand einem Mann im kornblumenblauen Hemd zuhört? Schröder hat immerhin die Ärmel hochgekrempelt. Das war noch ein Typ. Ein echter Typ. Keine Außenminister-Kanzlerin, kein Sparkassenvertreter, kein Verwechsel-Gesicht. Da hatten die Kabarettisten auch noch was zu tun. Jetzt ist es ja schon soweit gekommen, dass man vom Kanzlerkandidaten als Oskar spricht. Tz. Auf zwanzig Prozent sind die Erben von Willy Brandt und Justus Leber gekommen. Zwanzig Prozent. Die reichen nicht mal um all die Schmerzen zu betäuben die man bei den Wahlergebnissen haben wird. Na ja. Dann, nach vier Jahren Merkel-Westerwelle wird vielleicht alles wieder anders. Wenn die BRD dann noch steht. Natürlich steht sie noch. Bei einer Sache ist auf die CDU Verlass: Auf jedem Wahlplakat ist die Schwarz-Rot-Gold der WM (Angies WM!) 2006 zu lesen. Häufig hinter dem WIR. Dem demagogischen DU für alle Volksgruppen. Wir, dass sind Du nur ohne Verantwortung. Jeder bräuchte in einer solchen Demokratie einen Dienstwagen, sollte haben. Ein Dienstwagen für alle. Dann kommt es auch wieder mit den Kondomen hin.

Gunnar Patrick Modesohn ist schon lange tot

Dies ist kein Nachruf war das erste Buch was ich von Gunnar Patrick Modesohn gelesen habe. Das war zwei Wochen nach seinem Tod.
Die Geschichte handelt von einem Holzfäller der alleine im Wald seine Arbeit verrichtet und von einem Baum halb erschlagen wird. Im Übergang von Leben zu Tod verfasst er seinen eigenen Nachruf. Mit schwindenden Kräften kehrt er in die eigene Kindheit zurück und erkennt: Sein gesamtes Dasein war vorprogrammiert, er wusste nur nichts davon. Sich mit dem Schicksal auseinandersetzend wird klar: Es gibt keine Vergangenheit. Wir wissen es nur nicht, oder noch nicht.
Halbe Sachen, dass waren Gunnar Patrick Modesohns Geschichten. Geschichten aus einer Zwischenwelt. Niemals passierte etwas ganz, auch wenn es eigentlich nur ganz geschehen kann. Aus „erschlagen“ wurde „halb erschlagen“. Die Tat an sich passiert, nur die Auswirkungen lassen noch auf sich warten, oder: Unser Erkennen lässt auf sich warten. So habe ich seine Literatur kennen gelernt, nachgerückt.
Erfahren habe ich von ihm im Winter 2007 durch einen kleinen Artikel auf der Seite einer schwedischen Tageszeitung im Internet. Dort stand: „Gunnar Patrick Modesohn in Uppsala an einem Spielzeugauto erstickt.“ Ich hatte damals noch nichts von dem, in Literatenkreisen verehrten, Autor mit deutschen Wurzeln gehört. Die Überschrift machte mich neugierig. Im weiteren Verlauf des Artikels wurde der Polizeichef von Uppsala zitiert, der über die Umstände des Todes sagte: „Wer an einem Spielzeugauto krepiert muss irgendwas zu kompensieren haben.“
Tatsächlich war Gunnar Patrick Modesohn an einem roten Porsche 911 im Maßstab 1:55 erstickt. Wie es dazu kam ist relativ simpel: Zeit seines Lebens sammelte und ordnete Modesohn Spielzeugautos. Dies tat er auch in seinem Sommerhaus in Uppsala. Fast viertausend Autos soll er dort gehabt haben. Im Garten stand ein altes Schwimmbecken, mit Heizung, auch für die kalten Tage im Sommer. Unter dem Einfluss von, was die schwedische Presse als „unmenschlich viel Heroin“ bezeichnete, schmiss Modesohn alle seine Sammler-Spielzeugautos in den leeren Pool und sprang dann nach. Er tauchte nie wieder auf.

In knapp einem Monat erscheint nun sein letztes Werk. Endlich übersetzt aus dem Rumänischen von Bengt Jösensen. Es heißt: Sinnbildlich ausgedrückt und ist eine Reise in die verwinkelte Welt der Zeichen und Buchstaben. Modesohn beschreibt darin, typisch für ihn in einer Sprache die nicht seine eigene ist (er sich aber zu seiner eigenen gemacht hat), wie es die Buchstaben unserer Sprache, in unseren Zeitschriften und Büchern schaffen, sich aneinander anzulehnen, sich zu Gruppen zusammenzustellen um dann für uns ein Bild, ein Foto, ein Gesamtsymbol zu werden. Geradezu liebevoll nähert sich das kleine a dem kleinen n an, zusammen sind sie stark und „fast nicht wieder voneinander zu trennen“, wie Modesohn schreibt. Da ist es wieder: Dieser Zustand des halben, des noch nicht ganzen oder eben nur das „fast“.

Geboren wurde Gunnar Patrick Modesohn im kleinen Ort Drüsen, ganz in der Nähe von Mölln. „Drüsen war der Kesselraum für die siedenden Begierden meiner Jugend“, schrieb Modesohn 1989 in einem seiner ersten veröffentlichten Essays Heimatwanderwege um Mölln. Modesohn war damals einundzwanzig Jahre alt. Seine Jugend hatte er im Reihenhaus der Eltern als Einzelkind verbracht, umgeben von (wie er es beschrieb) „den einschnürenden Möglichkeiten die aufgeklärte und interessierte Eltern ihren grundlos wütenden, sich den Silberstreif ersehnenden Kindern bieten“. Mit Sechzehn schloss er die Hauptschule ab, wie damals schon von allen festgestellt: „Nicht aus Unvermögen, aus Unwillen.“ So sprach sein Klassenlehrer über ihn. Die Mutter, eine studierte Kulturwissenschaftlerin und nach Gunnars Geburt leidenschaftliche Hausfrau, drückte es 2008 in einem Interview mit der mare zum Erscheinen von Gunnar Patrick Modesohns Meersonaten so aus: „Gunnar war nicht dumm, er war sogar ausgesprochen begabt. Sprach fließend Englisch, Französisch und Polnisch. Aber er wollte, auf Teufel komm raus, sein Wissen mit niemandem teilen. Wir wussten nur das er all diese Sprache beherrschte, weil wir ihn dabei erwischt hatten wie er mit Andrzej Wajda telefonierte und sogar auf polnisch scherzte.“
Früh hatte sich eine enge Freundschaft zwischen dem älteren, polnischen Regisseur Wajda und dem noch jungen und gierigen Modesohn entwickelt. Sie trafen sich zum ersten Mal bei der Premiere von Wajdas Film Eine Liebe in Deutschland in Berlin. Aber Modesohn war nie einfach ein Schüler des deutlich älteren Mannes, Wajda war nie ein Mentor. Man schien auf Augenhöhe. Später schrieb Modesohn in seiner oft nachgedruckten Rezension von Wajdas Film Die Karwoche: „Andrzej ist in der Lage aus einer Geschichte auch den letzten Rest Falschheit heraus zu pressen und lässt das übrig, was alle Geschichten sind: Totes Leben. Aber das ist lebendiger, weil es das einzige Leben ist, dass keine Zukunft hat.“

Nach seinem gerade einmal ausreichenden Hauptschulabschluss verließ Gunnar Patrick Modesohn 1984 das Elternhaus und reiste nach Hong-Kong. In einem Brief an den Vater, der als Prüfer für das Finanzamt Mölln seinen Sohn immer mit dem nötigen Kleingeld ausgestattet hatte, schrieb Modesohn: „Papa. Ich verabscheue Dein Geld. Ich verabscheue Deine Sparsamkeit. Es ist doch nur ein temporärer Zustand. Nichts von Dauer. Geld ist nicht aus Stein. Bitte schick mir zweitausend Mark, ich will hier einige Zeit bleiben.“
In seinen drei Jahren in Hong-Kong schrieb Modesohn viele seiner Jahre später erst unter dem Titel Freificken von Gestern veröffentlichten Kurzgeschichten. Er kam ausgebrannt und mit der Syphilis Anfang 1987 zurück nach Mölln und erlebte in stiller Einsamkeit, im Kinderzimmer seiner Jugend den Mauerfall.

Nach dem die Grenzen offen waren zog Modesohn nach Berlin. Arbeit hatte er zu Beginn keine, schaffte dann aber die ersten Veröffentlichungen von Essays und Kurzgeschichten. Darunter auch die Geschichte Latenz, in der ein SS-Offizier durch ein Zeitloch zuerst nach Ost-Berlin 1968 fällt und später nach Bonn im Jahre 1990. Latenz wurde sowohl mit dem Kleist-Preis als auch dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Danach standen Modesohn plötzlich alle Türen offen. Drei Jahre schrieb er an seinem ersten Roman. Als 1994 Kann man auf Füße stolz sein erschien, hatte ihn die Fachwelt schon fast wieder vergessen. Aber eben nur „fast“. Der Roman erhielt überwältigende Kritiken und verkaufte sich hervorragend. Die Geschichte beschreibt den Weg eines jungen Mannes der von Mölln nach Berlin wandert und zwar barfuss und ohne Pause. Auf dem Weg, der durch zunehmende Schmerzen beschrieben wird und in denen Modesohn von der Kritik verbrieft die wohl „deutlichsten und erschreckend-wirklichkeitsnächsten Beschreibungen von physischen Schmerzen“ abliefert, begegnet der namenlose Protagonist nicht nur seinen Eltern immer wieder, auch sich selbst. Die zeitlich und räumlich verzerrte Reise endet mit blutigen Stümpfen wo einst die eigenen Füße waren. Füße die das selbst und das Selbstbewusstsein einer jungen Seele wie selbstverständlich tragen und nach und nach, durch Elternhaus und Selbstzweifel, abgerieben und am Ende abgetrennt werden. Zurück bleibt ein „Fußloser unter Fußlosen“, wie sich Modesohn in Berlin selbst beschreibt.
Gerade der kommerzielle Erfolg, vor allem in der Studentenszene Berlins, machte Modesohn schwer zu schaffen. In einem seiner wenigen Fernsehinterviews, als Gast der Talkshow 3 nach 9 gesteht er im Sommer 1995 Juliane Bartel: „Ich kann diese verwahrloste Gesellschaft nicht mehr sehen. Die mit ihren Büchern und ihren Zeitschriften wie Medaillen umherstolzieren. Ich würde sie am liebsten alle töten. Nein, streichen sie das. Ich würde sie leben lassen, aber dazu verdammen die Inhalte einmal wirklich zu verstehen. Jeder der die Inhalte einmal verstanden hat, läuft nicht mehr mit dem Buch vor dem Bauch umher. Nie mehr.“

Gequält von der Angst von der Masse verstanden und damit in seiner Aussage verwässert zu werden, zieht sich Modesohn 1996 nach Westdeutschland zurück und zieht – nach dem Tod des Vaters – wieder bei seiner Mutter ein. In der Folgezeit erscheinen eher sporadisch Werke von ihm, wie die Fabelsammlung Preisgekröntes Grimm-Märchen ohne Menschen, aber mit Tieren die sprechen. Die damaligen Werke, so ist sich später die Kritik einig, zeichnen sich vor allem durch sprachliche Aspekte aus. Seine Wortfindungen, -umdeutungen und –verklärungen werden überall in der geeinten Bundesrepublik aufgenommen und sogar darüber hinaus. In Polen erscheinen seine Werke in Sammelbänden und von ihm selbst übersetzt. Modesohn beginnt weitere Sprachen zu lernen. Rumänisch, Bulgarisch und sogar Chinesisch nimmt er sich vor und meistert schnell alle Hürden auf seinem Weg. Bis zu seinem Tod, so wird angenommen, lernte er vierundzwanzig unterschiedliche Sprache und konnte sich in fast allen mühelos und geschickt, mündlich wie schriftlich, ausdrücken. Doch die Zeit nach 1995 ist geprägt von einem deutlichen Rückgang seiner inhaltlichen Stärke. Sein Lieblingsthema, die „Zerrissenheit zwischen ganz und nicht, das halb“ (wie er in seiner Kurzgeschichte Ich bin die Hundeleine noch 1990 schreibt) verschwindet fast ganz aus seinen Erzählungen. Gipfel dieser Entwicklung ist der Veröffentlichung seines fünftes Romans Kataloge 2002, welcher zwar durch Sätze wie „Schlafend sind Kinder oft wach anzutreffen“ brilliert, allerdings eine einheitliche Handlung vollkommen vermissen lässt. Der Literaturkritiker Denis Scheck hat den Roman passend als „die Geschichte ohne Geschichte, die wie alle Geschichten ein Anfang und eine Ende haben will, aber weder noch besitzt. Das ist schon alles worum es geht.“ zusammengefasst.

Nach Kataloge bricht Modesohn dann aus. Er zieht nach Schweden, reist eine Zeit umher und lässt sich schließlich 2004 in Uppsala nieder. Hier schreibt er noch drei Bücher: Dies ist kein Nachruf, So viele Kreidefelsen und keine Tafel und Sinnbildlich ausgedrückt. Am 19. November 2007 wagt er dann den Sprung in das Schwimmbecken voller Spielzeugautos. Nachrufe werden von Verehrern und Kollegen auf der ganzen Welt verfasst und überall veröffentlicht. Doch kaum einer kennt die wahren Texte. Kaum einer kennt den wahren Gunnar Patrick Modesohn. Niemand wusste von seiner Drogensucht, von den Potenzproblemen nach der frühen Syphilis und den neurologischen Auswirkungen, die sich in krankhaftem Selbsthass und Hass auf den Vater zeigen. Einige Biographen behaupten auch, dass es in Kindertagen zu einer Vergewaltigung kam. Nichts davon lässt sich mit Fakten belegen.
Viele Autorenkollegen zitieren ihn gerne, entnehmen Wortkonstruktionen oder ganze Sätze seiner Bücher. Aber kaum einer hat ihn wirklich gekannt, kannte ihn persönlich.
In Andrezj Wajdas jüngstem Film Tatarak tritt in einer Szene ein junger, verstört vor sich hinblickender Mann auf. Er ist hager, erinnert in Statur und durch zerzauste Haare an die wenigen Bilder die von Gunnar Patrick Modesohn existieren. Der unbenannte Mann, der nur im Drehbuch als G.P.M. auftaucht hat nur drei Sätze, dann geht er wieder ab und kommt nicht zurück:
„Ich war nie ganz da. Ihr kennt mich nicht, doch liebt ihr mich. Sterbt nicht wie ich, oder doch, auf jeden Fall ist es euer Leben und es ist vorbei.“

Glutamat-Bomber

Vor mir in der Schlange bei Starbucks steht eines jener Mädchen die man auf Kommando großartig findet. Gut: Gegen sie spricht die Tatsache bei Starbucks für einen Venti-Moccachino-Latte-mit-Bizet-Teig-auf-der-Schaumkrone zehn Minuten anzustehen, aber ich bin ja auch nicht besser.
Jedenfalls ihre Kleidung: Okay, H&M-Jeans (ich weiß wovon ich rede). Aber wie sie die trägt… nicht einfach so. Eine halbe Nummer zu groß und nicht eine halbe Nummer zu klein. Nicht reingezwängt, sondern mit dem richtigen Maß an Selbstbewusstsein einfach etwas weiter gekauft. Das ist ja schon im Subtext so beeindruckend: Das letzte Mal als ich mit meiner Ex-Freundin Einkaufen war, zwängte sie sich wild strampelnd in eine 34er (bis heute weiß ich nicht was das heißt, aber der Verkäufer sagte das mit einem Augenrollen). Und jetzt dieses Mädchen:
Ihre Turnschuhe sehen arg mitgenommen aus. Ganz so, als hätte sie gerade ein Wochenende am Badesee oder einen Trip an die Ostsee hinter sich. Wäre ich doch nur dabei gewesen.
Ihr T-Shirt – irgendwas mit einer Band drauf (bestimmt funkiger Trip Rock oder Acid Pop, und bestimmt irgendwas semi-Bekanntes, eine europäische Band, nicht zu weit weg, aber mit deutlichem Einschlag, die über Liebeskummer und Weltkrieg singen) – passt genau, es sitzt nicht eng: Es passt einfach.
Die Haare sind in blonden Locken verdreht. Dunkle Strähnen zeichnen sich dazwischen ab: Ein Meer aus hell und dunkel, hell und dunkel und …
Dann trifft es mich. Um ehrlich zu sein, ziemlich genau in der Rippengehend. Ein Mädchen mit glatten, schwarzen Haaren rempelt mich an, stößt mit den weiten Lederstiefeln gegen mein Bein, entschuldigt sich gehaucht – mehr noch: genuschelt – und geht dann weiter. Sie ist der südspanische Traum einer Flamenco-Tänzerin, nur ohne Hüften (ganz der Model-Bulimie-Traum). Sie trägt schwarze, enge Hosen und dazu ein rotes Top. Wie für einen Stier. Alles ergänzt sich. Ich wende den Blick, dann starre ich die großen, tiefgrünen Augen des wartenden Mädchens hinter mir. Sie guckt schüchtern über die schmale Brille hinweg, hat dabei etwas Keckes und gleichzeitig ist sie unschuldig wie begehrenswert. Mein Blick geht weiter: Starbucks ist voll von Abziehbildern, von jenen eindeutig uneindeutigen Mädchen aus dem Paradies. Mädchen die wie Glutamat-Bomber die Geschmacksverstärker einer aus Hüllen bestehenden Welt zu ihrem Mantra gemacht haben. Ich will hier gar nicht wortklauberisch werden: Es kotzt mich nur an.
Nicht erst seit heute, immer schon. Dies ist nicht meine Welt. Meine Welt stinkt manchmal, schwitzt und kann sich nicht entscheiden ob es Blümchenbluse oder schwarze Lederhose sein soll. Zieht man eben beides an! Meine Welt kennt nicht die Wüste der klaren Linie. Meine Welt ist dazwischen. Irgendwo im zweifelnden Dreck.
Theologisch wie das klingen mag: Meine Welt ist durch Starbucks neu geboren. Nie wieder einen Chai-Latte-mit-extra-Milchschaum. Nie wieder.
Ab heute heißt es: Back to the Roots. Wo immer die sind.