Die reine Wahrheit über Arthur Miller

Arthur Miller war mit drei Frauen verheiratet. Seine erste Frau ließ er sitzen, als er Marilyn Monroe kennen lernte.
Arthur Miller war ein Dramatiker. Arthur Miller hielt nicht viel von der Ausrichtung des Lebens nach beruflichem Erfolg. Arthur Miller appellierte an die Ethik und an die Vernunft des Menschen.
Arthur Miller hat am zehnten Februar seinen zweiten Todestag.

Wie kann man sich jetzt noch über die Gewinnsucht und das Ausschlachten von hohlen Programminhalten und menschenverachtenden Serienformaten beschweren, wenn Arthur Miller damit schon vor so vielen Jahren anfing. Jetzt ist er tot. Nichts hat sich geändert. Alles ist nur schlimmer geworden.
Die Fatalisten rufen: Man beklage sich schon immer (seit altersher) darüber, dass Früher alles besser gewesen sei.
Fatalisten sind die, die auf der Titanic der noch spielenden Band zugehört haben, als alle Anderen versucht haben zu schwimmen.
Die Wahrheit ist: Es wird schlimmer. Es wird schlimmer, wenn man Jahrzehnte eine Mauer stehen lässt und dahinter etwas verfault.
Jeder Zahnarzt weiß das. Regelmäßig Putzen, die Zahnschmerzen nicht hinnehmen, zum Arzt gehen und eine Füllung machen lassen.
Fatalisten gehen doch auch zum Zahnarzt, oder?
Es wird auch schlimmer, wenn man in jedem Haus einen DVD-Spieler, der weniger als eine Kiste Bier kosten soll, stehen haben will und gleichzeitig Probleme damit hat, dass Nokia nach Ungarn abwandert.
Fatalisten trinken Bier, während sie sich einen Film ansehen. So ist das.
Es wird schlimmer, wenn man untalentierten Grinsern aus den Achtzigern eine eigene Talentshow gibt um über das Talent der Gegenwart zu richten. Klar das da einer gegen nen Gurkenlaster rast. Und es wird schlimmer, wenn zur gleichen Zeit die achte Staffel eines Sozialexperimentes startet, aus dem noch niemand etwas gelernt hat. Wie soll man auch etwas daraus lernen, wenn sich ein Großteil der wählenden Bevölkerung scheinbar mit der Inhaftierung von Freiheitsrechten abgefunden hat.
Eine Konvertitendatei. Himmel!
Ist das so was, wie die Frage auf der Krankenversicherungsanmeldung nach „Raucher oder Nichtraucher“? Oder doch eher so was, wie der Zwang sich biometrisch fotografieren zu lassen. Wenn das nur aus der Idee geboren wäre, dass alle Menschen gleich dämlich auf ihren Passfotos aussehen … ich hätte kein Problem damit. Aber Biometrik ist der tatsächliche Versuch uns zu charakterisieren. Ja. Anhand unseres Aussehens. (Gab’s da nicht schon mal so eine Sache mit Hakennasen?) Und das gilt für Alle. Zur Widererkennung. Damit eine Software hinterher ausspucken kann, dass ich nach dem Fahrkartenkauf am Hauptbahnhof siebzehn Minuten am Kiosk vor den Pornoheften stand. Siebzehn Minuten. Vielleicht hab’ ich Kleingeld für die taz gesucht … -Scheißegal! – Vor den Pornoheften war das Licht besser, da konnte ich besser nach den Münzen suchen… – Scheißegal! Sie standen siebzehn Minuten vor den Pornoheften. Was haben Sie da gemacht? – Ich hab nur Kleingeld … – Papapapapa!
Würden die mir danach einfach einen Erotik-Newsletter zuschicken, hätte ich kein Problem damit. Solange es nur um Konsum geht, verzichte ich auch gerne auf meine Persönlichkeitsrechte. So ist das.
Warum hab’ ich dann sonst ein Problem damit, fragen die Fatalisten. Nein, Stopp!
Das fragen nicht die Fatalisten, denen ist nur alles „Scheißegal!“. Es fragen die Nervösen und die Hektiker. Die hektischen Nervösen. Die, die so viel Schiss haben, dass man meinen könnte: Wir sind der Feind. Also alle. Vielleicht sind wir das ja auch. Was haben wir auch schon zu bieten?
Hirnlose Doku-Krimi-Serien und Einrichtungssendungen müllen uns den Fernsehtag zu. Und es braucht mehr als ein „Trio mit vier Fäusten“ um da mal richtig aufzuräumen.
Auf „Fantasy Island“, mit dem unverwechselbaren Ricardo Montalban, gab es jede Woche in den Jahren 1978 bis 1984 zwei Wünsche, die den Besuchern erfüllt wurden. Das war alles. Das ganze Konzept. Ein Happy End ohne „End“.
Heute schicken wir abgehalfterte Torwarttrainer in den Urwald, damit sie mit ausgemusterten Pornodarstellerinnen formulierungsarme Streitereien vom Zaun brechen. Hinterher hassen sich alle. Super!
Wir wundern uns über sprachgestörte und verstörte Kinder an den Schulen, laufen aber selbst in die neuesten Folterfilme.
Aber sobald mal wieder Einer vom Kirchturm mit ner Fernschusswaffe aus „Jagd & Hund“ rumknallt, jammern wir wieder für zwei Wochen bei Maischberger über gewaltverherrlichende Computerspiele. Oder wir lassen jammern. Scheinbar ist Jammern zum Allheilmittel geworden. Lieber Jammern als Erziehen. Können wir uns ja auch leisten, wenn’s mit dem Balg nicht klappt: Kommt eben die Supernanny! Und die hat jetzt auch schon soviel politische Brisanz, dass der Spiegel sie zu Roland Koch befragt. Der Spiegel! Irgendwann landet die Supernanny auch noch mal im Dschungelcamp, zusammen mit dem Aust. So sieht sie doch aus, die Fernseh-Verwertungskette.
Aber aus den Computerspielen sind wir auch noch nicht schlauer geworden. Das Puzzle-Spiele, wie Myst oder Tetris, das räumliche Verständnis fördern und man als kleiner Bub nach zwei Stunden Killzone 2 schweißgebadet und angespannt im Bett nicht schlafen kann … wer soll daraus auch schlau werden. Das erfordert ja eine gewisse Beschäftigung, einen Dialog. Nicht nur Jammern. Eben eine Erziehung. Aber wir jammern lieber als zu erziehen.
Und erzogen haben wir doch mal ganz gut, oder?
In der Schule hatte für mich die Ringparabel nichts mit Zwergen und Elfen zutun. Und Captain Kirk hat niemanden gefoltert. Picard übrigens auch nicht. Jack Bauer foltert ohne Unterlass. Es gibt jetzt schon „Twenty-Four“-Bettwäsche, wussten sie das? (Es gibt auch „DSDS“-Bettwäsche. Als ich jünger war, wurde man als DJ mit Bechern beworfen (vollen Bechern!), wenn man Modern Talking auflegte.)

Mittlerweile bin ich übrigens Atheist.
Arthur Miller war auch Atheist.
Ich hab’ das erst gerade nachgelesen. Interessant, oder? Er hat trotzdem den Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft bekommen.
Max Frisch hat diesen Preis, ein paar Jahre vor Arthur Miller, auch erhalten. Wissen sie was Max mal gesagt hat:
„Manchmal scheint mir auch, daß jedes Buch, so es sich nicht befasst mit der Verhinderung des Krieges, mit der Schaffung einer besseren Gesellschaft und so weiter, sinnlos ist, müßig, unverantwortlich, langweilig, nicht wert, daß man es liest…”

Alles so und noch nicht mal 15 Tage 2008!

Streiten wir nicht über Günni Grass.
Nein. Bitte. Ich bitte Sie. Lassen wir das. Einfach nicht drüber reden.
Was? Er hat schon wieder auf einer SPD Klausur geschimpft? Was ist überhaupt eine Klausur in der SPD? Ist das im wörtlichen Sinn zu nehmen? Warum wissen wir dann davon? Warum sprechen alle drüber … über Günni und die Demagogen? Und warum benutzt einer, der selber gerne frei spricht, das böse Wort aus Karlsbad … Was haben die da 1819 doch gleich beschlossen? Genau: Demagogen gehören zensiert und verboten. Und welche Demagogen? Die liberalen Demagogen. Nein. Liberale sind Demagogen. Genau. Deswegen verbietet man sie. Wenn das mal so leicht wäre mit der FDP. Schade drum. Schade dass wir nicht 1819 haben und niemand mehr genau weiß wo Karlsbad überhaupt liegt. Ganz am Anfang … so beim alten Perikles … war der Demagoge noch ein Ehrenmann. Es war sozusagen der Ritterschlag für den Philosophen Demagoge zu werden. So in Richtung: Ehrendoktor. Vielleicht auch Nobelpreis … ahhh … Stopp. Dann ist Gunni ja auch … gleich zwei Mal … ein Doppel-Demagoge. Ist das dann so was wie ein Doppelagent?
Aber reden wir nicht drüber. Nein, wir wollen nicht drüber reden. Lassen wir das.
Warum lassen wir eigentlich Günni noch reden? Hm? Warum?
Harald Juhnke haben sie auch irgendwann mit dem Gesicht zur Wand im Rollstuhl in die Ecke geschoben und einfach nicht mehr zugehört.
Geht schlecht, wenn die SPD mittlerweile jeden aus der Ecke wieder rausholt um gegen Kaltschale Koch einen Punkt in Sachen Sozial zu gewinnen und dann aber auch wieder einen Punkt in Sachen Relevanz (oder besser: „Who cares?“) zu verlieren.
Reden wir einfach nicht drüber. Reden wir nicht übers Inland, reden wir übers Ausland.
Reden wir über Arnold Schwarzenegger. Reden wir übers White House. Reden wir über die Möglichkeit für einen Österreicher Reichskanzler … ähhh … Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Ja, genau: Die Anwälte vom Terminator arbeiten schon dran. Irgendwann wird Schwarzenegger wählbar. Wählbarer noch als bisher.
Ein Mann, der gegen den Teufel mit einem Raketenwerfer angetreten ist … kann vielleicht bald der „so called“ mächtigste Mann der Welt werden. Einzig Chuck Norris kann ihn dann noch aufhalten, aber das ist eine andere Geschichte.
Doch der Kindergarten Cop kann sich noch vier Jahre Zeit lassen, bis dahin knallen nämlich die Demokraten erstmal den Karren gegen die Wand. Die Frage ist nur: Wer darf? Und jetzt nischt gegen die Frauen, aber ich bin absolut für Obama. Nicht zuletzt weil Will Smith auch für ihn ist. Eigentlich eher zuerst weil Will Smith für ihn ist.
Jetzt aber Achtung! Die Bild-Zeitung hat berichtet: Will Smith liebäugelt mit Scientology.
Ui. Das ist ungefähr so spannend, wie die Bekenntnisse von Rollenspielern J.R.R. Tolkien anzubeten.
Verdammt noch mal, was ist das für eine Obsession mit Scientology?
In tausenden von Kinderläden in Deutschland basteln alternativ erzogene Tagesstättenkinder Mandalas und Traumfänger. Wenn jemand an Außerirdische und das Ungleichgewicht von Thetan glauben will … Lass ihn doch! Was kümmert es euch?
Hm? Und dann diese Hetze gegen Tom Cruise. Himmel noch mal. Das Einzige was er getan hat, war auf einem Sofa rumzuhopsen! Mehr nicht. Das war alles. Und kaum jemand hat diese Sendung live gesehen. Jedenfalls nicht in Deutschland. Also: Was wollt ihr? Schließlich steht der nicht mit ner Ausgabe von L.Ron.Hubbards furchtbar öden Science-Fiction Romanen in der Hand bei euch in der Fußgängerzone. Und wenn ihr was gegen die Filme habt: GUCKT SIE NICHT!
Niemand beschwert sich über die Verdummung der Kinder mittels Harry Potter. Hunderte und noch mehr Heranwachsende kommen mir an S-Bahn-Gleisen und in Bahnhofsunterführungen panisch entgegen und wollen wissen wo das Gleis 9¾ ist. Da frag ich mich doch: Musste das sein?
Warum schreit niemand: Hexe und zeigt auf Miss Rowling, die jetzt doch noch einen achten Band Potter bringen will. Niemand hätte das Christentum ernst genommen, hätten die zu Beginn des Mittelalters – als die Apostel gerade der trendy „Hot Shit“ waren – „The Bibel, 2nd Story“ rausgebracht hätten. Aber verehrt wird Rowling trotzdem wie ein Heilsbringer. Tom Cruise dagegen kriegt Drehverbot angedroht. Ein bisschen mehr christliche Nächstenliebe bitte!
Und wenn nicht christliche, dann doch wenigstens indianische oder buddhistische, die man mit Mandalas und Traumfängern doch gelernt haben müsste. Oder?

Medienkritik 1

Heute stand im Berliner Fenster eine Nachricht.
Wie sich das anhört: Eine Nachricht.
Das Wort klingt doch schon falsch. „Nachricht“
Würde bedeuten, man soll sich danach richten. So geht das aber leider nicht.
Nicht nach den Nachrichten im Berliner Fenster.
Das Berliner Fenster mit seinen eingeschrumpften Meldungen aus der Unterhaltungsretorte.
Erste Nachricht war: Eine archäologische Ausgrabung hat einen Aztekentempel aus dem Jahr 1100 gefunden. 1100.
Erstmal: Wann „1100“?
Vor oder nach? Nicht der Ansatz einer korrekten Zeitangabe.
Naja … normalerweise weiß jeder: Azteken … war „nach“. Aber was ist schon normal bei den BZ-gesponsorten Berliner Fenster Nachrichten. Also „1100“. Und nun?
Was sagt mir das? Wie soll ich mich danach richten?
Hätten sie gesagt: Haben außerirdische Knochen in Aztekenpyramide gefunden. Na dann. Also hatte Erich von Däniken doch nicht ganz Unrecht. Aber so?
Sind die alten Azteken eben schon etwas früher über den Boden des Urwalds getanzt. Bitte. Mir doch egal. Interessiert mich nicht. Wie soll es auch. Azteken haben mit der Zukunft und der Gegenwart eines End-Zwanzigers in Mitteldeutschland soviel zu tun wie Schäuble mit gesunder Innenpolitik. Nischt.
Natürlich interessiere ich mich für Geschichte. Ist schon wichtig. Aber doch nicht die Azteken von „Über dem Teich“, die niemand vor 1492 kannte und auch nicht kennen wollte. Also: Mal schön scheißegal. Trotzdem in der Dauerschleife alle zwanzig Minuten für mindestens dreißig Sekunden als „Nachricht“ im Berliner Fenster der U-Bahn.
Schön. Neben den scheißegalen „Nachrichten“ über Stars on Ice mit Schreckschrauberin Kati Witt und der Belanglosigkeit der Frage „Ist Eva Herman rechts?“ müllt nun auch diese Banalität der Oberklasse zusätzlich das Erinnerungszentrum in meinem Hirn voll. Vielen Dank. Dankeschön, BZ!
Ich will ja nicht sagen: Wer BZ liest „IST“ blöd, aber er wird es bestimmt noch.
Die nächste BZ/Berliner Fenster Nachricht war mal wieder über den beknackten Eisbären Knut! Jetzt soll er für eine Million in einem Hollywoodfilm mitspielen.
Da sollte man doch sagen: Sehr gut. Dann nimmt man das Geld, steckt es in den Landeshaushalt und fertig. Aber so leicht macht sich Berlin das nicht. Nein.
Hier wird darüber diskutiert. Scheiße noch mal. Zuerst rotten wir zehntausende Eisbären in jahrhundertelanger Tradition am Pol aus und jetzt lamentieren wir über den Einsatz eines einzigen Bären bei einem beschissenen Film. Eine Million ist das drin für die Berliner Kassen. Wenn man uns den, ehemals knuffigen „Kevin allein zuhaus“-Darsteller Macaulay Culkin, jetzt gebeutelt durch Drogen und Abstoßung, für ne Million abnehmen würde. Sofort. Natürlich: Ohne zu zögern. Sofort.
Für ne Million Dollar oder auch Euro können wir auch genug Eisbären-Stammzellen kaufen um zwanzig Knuts zu zeugen. Oder funktioniert unsere moderne Verwertungslogik á la großer Koalition nicht so?
Hm? Aber die große Koalition ist doch sowieso das Lieblingsthema der Medien. Hier wird, wie sonst kaum, fehlberichterstattet ohne Grenzen!
Schäuble gibt vor: Es sind 40% gewaltbereite Islamisten in Deutschland.
Oder waren es 40% gewaltbereite, türkische Fundamentalisten? Egal. Araber mit Gewehren. So sieht es aus. Und dann noch 40%! Das ist beinahe die Hälfte. Und statistisch gesehen ist beinahe die Hälfte eine Koalition. Also regierungsfähig! Deswegen ist es eigentlich die Mehrheit! Also: Alle!
So gesehen steht auf den Titelblättern: Alle Araber sind böse!
Danke, Wolfgang, vielen Dank! Jetzt haben wir es. Alle die nicht deutsch sind, sind gewaltbereit. Weil, man weiß ja nie wer nicht noch alles Araber ist. Den Chinesen kann man sowieso nicht trauen, die klauen ohnehin nur unser nicht vorhandenes Know-How, von dem weiß ja auch – seit der Pisa-Studie – jeder! Also: Gewaltbereit.
Und gewaltbereit ist auch gleich gewalttätig. Das wissen wir seit den RAF-Sympathisanten. Scheiß doch auf. Sagen wir einfach: Jeder der nicht strikt dagegen ist, ist dafür. Deswegen sind alle Araber auch böse. Alle die nicht ausdrücklich sagen: Wir sind nicht gewaltbreit und nicht-nicht deutsch: Sind böse! So sieht es doch aus. Oder?
Sagt jedenfalls der Schäuble. So hab’ ich das gelesen.
Und so wird es berichtet und direkt in die Wohnzimmer der deutschen Familien hinein kommuniziert. Kein Wunder das man beim Türken um die Ecke nur noch ungerne den Brotaufstrich fürs Fladenbrot kauft. Da muss einem ja mulmig werden. Alle Araber sind also böse. Verdammt. Dabei war der Mohammed vom Döner-Laden doch immer so freundlich.
Aber wenn der Schäuble, der alte Rennfahrer, es sagt: Dann stimmt das.
Schließlich hat Der ganz andere Erfahrungen mit Attentätern gemacht. Der weiß wovon er brabbelt. Der weiß wie man Angst verbreitet. Und die Medien verbreiten mit.
Ursprünglich war ja mal angedacht, dass Medien auch Informationen auswählen. Sozusagen eine redaktionelle Arbeit leisten und alles im Kontext und reflektiert betrachten. Das ist vorbei. Auch auf Spiegel-Online wird genutzt und gehetzt was das Zeug hält, dabei sollten die Augstein-Jünger doch auf unserer Seite sein. Sind sie aber nicht mehr. Gehört doch alles längst dem Springer. Und wenn es nicht Springer gehört, gehört es dem Profit. Dem Profit des besten Verlegers. Mit den meisten Auflagen und den ängstlichsten Lesern.
Auflagen verkauft man mit Titten oder Angst. Weiß die BZ genau. Im Berliner Fenster sind zwar noch nicht genug Titten zu sehen, aber Angst gibt es auch im Kurz-Text-Format. Angst in dreißig Sekunden, sozusagen. In kleinen Einheiten.
„Arbeitslosenquote in Berlin am höchsten.“ Dass sie trotzdem gesunken ist, interessiert die Angst doch nicht. „Berliner produzieren am meisten Müll.“ Heißt noch lange nichts, wenn die Statistik die unbekannten Variablen wie „überwiegende Industrieabfälle in Ballungsräumen“ oder „Möglichkeiten zur Kompostierung“ nicht rausrechnet.
Aber Das interessiert die Angst doch alles nicht. Hier geht es nur um die Angst an sich. Und die, wissen wir ja, ist es die wir eigentlich fürchten sollen. Vielleicht sollten wir die BZ fürchten. Dann schlagen ein paar mehr gewaltbereite Jugendliche, wie es wieder einmal verkündet wurde, ein paar mehr von diesen Berliner Fenstern ein. Wäre ein Anfang. Das wäre auch mal ne Nachricht.

Solche Sachen

Es gibt solche und solche Menschen, hat meine Großmutter immer gesagt. Um ehrlich zu sein: Hat sie nicht immer, nur einmal gesagt, aber es ist hängen geblieben.
In der Vorweihnachtszeit merkt man es sehr deutlich.
„Solche“ Menschen rennen wie aufgescheucht durch Karstadt, greifen sich Oberhemden von den Tischen mit der Auslegeware und packen einfach alles ein. Einfach alles tief in die breite, große Tragetasche mit den überstrapazierten, lang gezogenen Plastikgriffen. Die Tragetasche aus dem dünnen Plastik, welches sich an der Unterseite schon so gefährlich ausbeult.
„Solche“ Menschen sind da ganz anders. Besonnen stehen sie bei Peek & Cloppenburg, probieren eine Krawatte nach der nächsten an – und ich meine anprobieren, also binden und binden und dann noch mal mit Windsor – um am Ende doch lieber „noch mal woanders zu gucken“.
Die Geschichte über „solche“ Menschen sind tierisch langweilig, weil sich der Geschichtenerzähler meistens über seine eigene Ungeduld aufregt, es aber entweder nicht merkt oder zu stolz ist es zuzugeben.
Bleiben wir also bei den rasend schnellen Fluchtkäufern. Den High-Speed-Kaufgängern aus allen Etagen. Ständig sind sie mit dem Ziel beschäftigt. Dem Ziel möglichst vielen Personen, möglichste viele Geschenke zu machen. Das ist ja erstmal nichts Schlechtes. Es ist sogar ziemlich clever. Die meisten Speed-Käufer wissen um die Unfähigkeit ihrer Mitmenschen gute Geschenke zu machen. Eigentlich könnte man sogar sagen: Sie wissen, dass Menschen nicht gut schenken. Das klingt nach einem holen Allgemeinplatz, aber gemessen an der Fülle von Individuen, alleine in der Bundesrepublik, ist das Warenangebot von amazon doch eher bescheiden. Wie kann man also davon ausgehen, unter dreitausend Produkten das „perfekte“ Geschenk für Jemanden zu finden? Gar nicht!
Genau das wissen die hetzenden Konsumenten, und kaufen genau deshalb umso mehr!
Warum? Weil durch die Menge an Geschenken die sie in die Welt pulvern, die Menge an Geschenken die sie entgegengesetzt zurückerwarten können, ebenfalls steigt. Damit steigt dann auch die Chance auf einen Glückstreffer. Einfache Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Wenn man aus einer Urne mit … sagen wir mal … dreitausend Kugeln zehn Mal, anstatt drei Mal zieht: Ist die Wahrscheinlichkeit, dass man die richtige Kugel bei zehn gezogenen Kugel erwischt höher … um genau zu sein: Sie ist um sieben dreitausendstel höher. Was erstmal nicht nach viel klingt. Aber wenn man dann bedenkt: Der Gearschte mit nur drei Geschenken hat gerade mal eine Wahrscheinlichkeit von drei dreitausendstel das richtige Geschenk zu bekommen, dann … man versteht was ich meine.
Es liegt also nicht am Hang der Welt sich immer mehr und mehr dem Konsum hinzugeben, dass rasende Käufermassen durch Sport-, Bekleidungs- und Elektronikabteilungen hasten und einfach nach allem greifen, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist. Es Eigensinn. Purer Eigensinn.
Als Kind hat man Bilder gemalt. Einfache Bilder. Meistens zwei Tage vor Heiligabend. Auf den Bildern waren Strich-Häuser, Strich-Männchen und Strich-Sonnen. Handwerklich waren diese Zeugnisse der frühkindlichen Kunstentwicklung also alles, nur bestimmt nicht vollendet. Trotzdem haben Mutti und Vati sie aufgehoben. Irgendwo liegen die Bilder noch. Zwischen der ersten Siegerurkunde von den Bundesjugendspielen und den Unmengen von gepressten Blättern des Herbstes `88. Vielleicht waren die Eltern damals nicht begeistert, vielleicht hätten sie sich auch sehnlicher die Tim Mälzer-DVD-Box gewünscht (mal ganz abgesehen davon, dass damals sogar noch VHS-Videorecorder die Seltenheit waren – gerade bei Eltern die ihre Kinder Blätter pressen ließen). Aber immerhin gibt es die Bilder von damals noch. Die Tim Mälzer-DVD-Box hab’ ich im August originalverschweißt in einer Kiste auf dem Sperrmüll gefunden.
Es gibt eben „solche“ und „solche“ Geschenke.

Block 2

5.11. (Map of your Head)
Ich saß im Bus heut’ Hinten. Normalerweise setze ich mich da nicht hin. Nicht wegen der Bedeutung (siehe: Dieser tolle Film von diesem engagierten Science-Fiction-Regisseur mit dem komischen Namen). Ich sitze nur normalerweise irgendwo in der Mitte. Am Fenster, ja, aber eben in der Mitte. Heute nicht. Heute war der Bus leer als ich einstieg. End- beziehungsweise Anfangshaltestelle. Also setze ich mich nach Hinten. Stöpsel rein und losgehört. Irgendwann fuhr der Bus auch los. Eine Station, zwei Stationen … dann stieg ein recht kahlköpfiger Typ in Bomberjacke und mit einer dünnen Aktenmappe ein und setzte sich neben mich … an die andere Seite von Hinten. Zuerst hab’ ich natürlich nichts gedacht. Mein Gott, ein typischer Glatzkopf. Ein bisschen türkisch sah er aus. Aber, Hey. Soweit gehen unsere Vorurteile doch. Entweder Glatze oder so wie Gel in den Haaren, dass es kaum noch Haare sind die da stehen. Immer schön maskulin und gefährlich aussehen. So denken wird doch. Manchmal denke ich doch so? Was mich an dem Glatzkopf neben mir schon verwundert hat, war die ruckartige Art mit der er sich bewegt hat. Dann hat er auch noch dauernd seinen Kopf im Kreis gedreht, so als hätte er eine Verspannung im Nacken oder einen steifen Hals. Und er sah sich dauernd um. Fuhr da etwa jemand hinter uns? Dann begann er zu telefonieren. Ich hab’ Musik gehört und nichts verstanden, aber irgendwas war laut. Laut und unzufrieden. Ein bisschen ist das ja auch normal für Türken. Denken wir doch. Dachte ich. Plötzlich fiel mir ein: Die Haltestelle an der er zugestiegen ist, ist die Haltestelle der JVA. Warum hatte er noch mal diese Akte dabei? Entlassungspapiere? Was stand’ da auf seinem Pullover? Das hatte ich doch bestimmt gelesen. Vorhin, als er einstieg und den schmalen Gang bis zu meiner Bank durchkam, oder? Irgendwas mit Sicherheitstechnik? Nein. Oder doch? Ein Wärter im Gefängnis? Gibt es den Begriff Wärter eigentlich noch? Heißen die jetzt nicht alle Sicherheit oder einfach Security? Aber was war das für eine Akte? Vielleicht ein ehemaliger Türsteher, wegen Gewalt am Kunden verknackt? Mir fiel die silberne Uhr an meinem Handgelenk auf. Verdammte Uhr. Warum musst du nur so silbern glänzen. Dabei warst du doch gar nicht teuer. Vorsichtig schob ich den Ärmel meines Pullovers etwas nach Oben. Nicht viel, man ist ja nicht paranoid. Nur so viel, damit die Uhr verdeckt war. Mit wem telefonierte der Glatzkopf da? Sicherheitspersonal? Häftling? War das Deutsch, was er da ins Handy rief? Und Draußen, vor dem Fenster des Busses: Da rauschte eine Vorstadtsiedlung nach der nächsten Vorstadtsiedlung vorbei. Sieht man mehr Türken als Deutsche in U-Bahnen und Bussen? Mehr Türken des Nachts auf der Straße? Liegt es am Viertel? Liegt es an der Stadt? Wahrscheinlich. Sind es Türken, wenn sie so aussehen?

6.11.
„Multiplexe sind heutzutage sehr gefährliche Orte“, sagte einst eine Filmfigur. Selbstreferenz ist über kurz oder lang eine Unumgänglichkeit. Bei Allem, bei Jedem und überhaupt.
Das Gefühl, wenn man Lieder ausgehört hat, ist so ein Gefühl. Es ist wie das abschließen der Möbiusschleife. Man kommt am Anfang an und will nicht wieder los. Es gibt so Lieder. Man hört sie, hört sie und hört sie. Ist man die Kassette an ihnen vorbei, will man eigentlich zurückspulen und noch mal hören. Bei mp3s ist das natürlich einfacher. Man skipt zurück und hört noch mal. Man kann nie alle Lieder gleichzeitig gut finden. Deswegen findet man manche besser und dann wieder unerträglich. Wenn sich die Welt ausgehört hat, beginnt die Selbstreferenz. Als würde man im Plattenschrank suchen. Dort, wo man seit dem letzten Umsortieren nicht mehr nachgesehen hat. Einem kann es natürlich nicht passieren: Dem Boss. Irgendwie macht er andere Musik. (Und jetzt habe ich meinen High Fidelity Moment) Niemals unabdingbar zurück zu skippen, aber auch irgendwie immer da. Danke, Boss.

7.11.
Ilsebel salzte nach. Ohne sich weiter darüber aufzuregen, dass am Laucheintopf die bittere Geschmacksnote fehlte, die seit seiner Kindheit für Constantin dieses Gericht einzigartig und unverwechselbar im Wald der Doseneintöpfe machte, lugte der Winzer in üblicher Manier über seinen Katheder und rümpfte spießbürgerlich die verknollte Nase. Letztlich war es Brauch in seiner Familie, die Ehefrau am Herd ihrem Schicksal zu überlassen. Ilsebel oder, wie Constantin seine Frau auch liebevoll und gleichzeitig mit einer warmherzigen Stichelei rief, Ilselda, kämpfte sich nun mit der Kräutermühle weiter dem geschmacklichen Gleichnis einer Erfahrung aus ihrer eigenen Kindheit entgegen. Kleinbeigeben und etwa eines der vielen, zum Schutz in jahrzehntealte Zeitung eingeschlagenen, Kochbücher zu Rate ziehen hatte Ilsebel nicht vor. Lieber würde sie ins viktorianisch eingerichtete Esszimmer gehen, den, mit einem Porzellangriff versehenen, Hörer von der glänzenden Metallgabel des Fernsprechers nehmen und ihre Freundin Margarete aus dem entfernten Aubach konsultieren um sich letzte Ratschläge zur Abwendung eines kulinarischen Fiaskos einzuholen. Doch dazu sollte es nicht kommen. Mit neu gewonnener Sicherheit griff Ilsebel erneut zum Streuer, führte den mit Reiskörner durchsetzen Salz im kunstvoll geschwungen-geblasenen Glasbehältnis über den brodelnden Süd im caramellbraun-umwandeten Topf und dosierte sparsam aber mit Nachdruck. Ein letztes Abschmecken später erhellte eine geradezu kindliches Lächeln, dass von Kriegswirren und zwei verstorbenen Ehemännern gezeichnete Gesicht der Winzer-Gattin.

8.11.
Es gibt sie einfach nicht mehr, die viel zitierte Waschsalonromantik. Deutsche Waschsalons sehen mehr und mehr wie Bahnhofstoiletten, und riechen auch so. Wahre Geschichte:
Ganz der junge Mann, mit wenig in der Waschtrommel und lesend darauf wartend, dass sich der Trockner endlich fertig geschleudert hat, sitze ich in einer dieser Wartehallen der Reinigungsindustrie, als ein Pärchen an mir vorbeiwankt. Zuerst denke ich mir nichts, dann erwischt mich die Alkoholfahne kalt und ich kann nur im letzten Moment den Würgereiz unterdrücken. Kann ein einzelner Mensch so riechen? Besser gefragt: Darf er das? Kleinkinder, an denen er vorbeigeht, haben doch sofort ihren ersten Rausch. Ich sage nichts, versuche weiter zu lesen und komme über den angefangenen Satz nicht hinaus.
„Dieeeter! Was muss ich da drücken?! Vierzisch oder Sechzisch Grad?!“
So ungefähr geht es zwanzig Minuten weiter. Zwischendurch hat die betrunkene Gestalt beinahe unbeabsichtigt meine Maschine geöffnet und in mehreren Anläufen es schließlich doch geschafft Waschmittel in – natürlich – das falsche Fach zu füllen. Sollte ich jemals geglaubt haben: Ach … Alkoholismus ist eigentlich auch kein schlechtes Lebensziel. Hier ist der Gegenbeweis. Eine menschliche Eierlikörflasche mit dem Artikulationsreichtum des quietschenden Rollstuhls von Harald Juhnke.
Eine eigene Waschmaschine ist ein Segen, soviel steht fest. Auch wenn die Idee von Besitz immer nicht so recht in das moderne, gesellschaftskritische Antlitz eines jungen Bildungsbürgers passt: Anders geht kaum … mir egal wie das klingt.

9.11.
VERBOTENE TRIEBE: Folge 2 „Auf fantastischen Vieren!“
Kurze Zusammenfassung der ersten Folge: Der Serienpsychopath hat dem Fahrer eines Kleinwagens einen Kugelschreiber in den Oberschenkel gerammt & Er hat, schon vor der Feiertagen, den Hund geschlachtet und unter die Butter gemischt. Sie hat ihn dafür getadelt.
Pick-Up: Indirekter Anschluss an erste Szene: Der Kleinwagen liegt im Straßengraben. Mit einer schweren Kopfwunde schleppt sich der Fahrer zurück zur Straße und versucht eines der vorbeirauschenden Autos anzuhalten. Er schreit: „Hey! Hilfe, ich —„ Ein dumpfes Gurgeln lässt ihn herumschrecken. Hinter ihm schält sich der Serienpsychopath aus dem Dunkel der Nacht und kommt mit einem blutverschmierten Grinsen auf ihn zu. „Du willst doch wohl nicht abhauen?“, fragt der Serienpsychopath und muss Blut husten. „Nein. Wieso?“, stellt sich der Fahrer dumm. „Dann ist ja gut.“ Mit einem Satz nach Vorne stößt der Serienpsychopath den Fahrer überraschenden auf die Straße, der Fahrer stolpert, fällt auf den Asphalt und rappelt sich schließlich auf. Fassungslos schaut er zurück: Der Serienpsychopath grinst. Der Fahrer bemerkt einen sich nähernden Scheinwerfer. Er schaut sich um. Dann wird er von einem LKW erfasst. Enden auf dem Serienpsychopathen, triumphal lachend und schließlich – unter seinen lebensgefährlichen Verletzungen nach dem Autounfall (während dem er nicht angeschnallt war!) – bewusstlos zusammenbrechend. TW.
Establishing Shot. Baumarkt. Ein Verkäufer in einem blauen Overall sortiert Nägel und Schrauben in ein Regal ein. Plötzlich taucht eine junge Frau hinter ihm auf. „Entschuldigen sie!“ Erschreckt dreht sich der Mitarbeiter um. „Ja?“ „Ich suche Kreissägen und Sägeblätter. Wo kann ich die finden?“ „Den Gang runter und dann Links.“ „Vielen Dank.“
Der Verkäufer beginnt schon weiter Nägel und Schrauben einzusortieren, als die junge Frau noch einmal nachhakt. „Welche Art von Säge würden sie für das Zerkleinern von Schienbeinknochen verwenden?“ Enden auf dem Verkäufer, überlegt.
(Ja. Das war definitiv zu viel Koffein.)

like a real good girl

Wenn ich mich an sie erinnere, dann verschwimmt für einen Moment das Bild. Wie in einer Traumsequenz aus dem Fernsehen. Für einen kurzen Blur (seit wann benutzt man solche Worte überhaupt?) verwischt alles, dann taucht sie auf. In Kunstnebel stehend, neben einem Whirlpool, alles geschmückt mit Kerzen. Dabei hatte ich nie einen Whirlpool und sie auch nicht. Aber in meiner Erinnerung trägt sie einen geklauten Bademantel aus dem Hilton in Aspen (und ich weiß nicht mal ob es da ein Hilton gibt). Langsam streift sie ihn ab, je nach Tageszeit trägt sie nichts oder kaum was. Dann haucht sie meinen Namen. In Echt hat sie ihn zuletzt nur noch geschrieen. Es war kaum auszuhalten. Dein Zeug liegt im Weg rum. Warst du immer schon so unordentlich? Pass doch auf, du reißt mir noch die Knöpfe von der Bluse! Das kriegt man also für einen zaghaften Versuch von Romantik. Nein. Nicht mit mir. Und dann hat sie es beendet. Einfach so. Nicht mal diskutiert haben wir. Ich hab’ meine Sporttasche gepackt, die Socken vergessen, und weil es ein Samstagabend war, musste ich den ganzen Sonntag mit den Socken vom Vortag rumlaufen. Sie schien doch so perfekt. Ich dachte es wäre was für Immer. Und jetzt? Jetzt scheint sie wieder perfekt. In meiner Vorstellung.
Als ich sie das erste Mal sah, spielte ein Coldplay-Song im Radio. Es war bei H&M. Sie stand da einfach so an einem Kleiderständer, drehte durch die Pullover und suchte sich langsam durch 100%-Baumwolle. Dann, als glaubt sie allein zu sein, popelte sie sich in der Nase. Ich wäre beinahe vor Lachen zusammengebrochen. Es war kein männliches, kein suchendes Popeln. Es war feingliedrig und schön. So wie eben nur wunderschöne Mädchen popeln können. Als ich mich beruhigt hatte, stand sie vor mir. Ihr schiefes Grinsen lag leicht auf und hätte auch zu einem Grummeln werden können. Ich entschuldigte mich und bat sie um ihre Telefonnummer. Sie stemmte ihr Hände in die Hüften und sah mich prüfend an, dann griff sie nach meiner Hand und zückte einen Kuli. Sekunde mal! Oder hab’ ich mir das nur eingebildet? War das bei H&M oder Peek & Cloppenburg? Hat sie gepopelt, oder? … es ist schwierig die Erinnerungen von den Phantasien zu trennen. Bei ihr fiel mir das nie leicht. Einmal wachte ich morgens auf und sie lag schnarchend neben mir. Ich war mir sicher, am Abend vorher über ihren Einzug bei mir gesprochen zu haben. Als sie aufwachte und ich fragte, ob wir uns dann auch einen neuen Kleiderschrank kaufen, lachte sie nur und meinte ich sei nicht ganz dicht. Sie würde ihre Wohnung auf jeden Fall behalten und niemals in meiner winzigen Höhle wohnen. Sie hätte Stil. Hatte sie. Ungelogen.
Unser erstes Date (wie man das ja so schön sagt) fand bei Pizza Hut statt. Am Telefon hatte ich wohl zu bedürftig geklungen, also wollte sie einen belebten Ort, an dem viele Menschen eventuell zu ihrer Rettung hätten herbei eilen können. Mich schreckte das nicht ab. Um cool zu sein, bestellte ich eine extra-scharfe Chilli-Peperoni-Pizza. Zwei Tage hat mein Magen an dem Blech verdaut. Aber sie war es wert. Im Grund war sie alles wert. Die Streitereien. Die beleidigten Seitensprünge die meistens noch vor meinen Augen anfingen… aber warum war sie es wert? Weil ich ein normalerweise ungelenker Freak bin? Wahrscheinlich.
Wir haben nur ein einziges Mal zusammen getanzt. Wobei „zusammen“ schon übertrieben ist. Sie hat getanzt und ich stand daneben und hab’ abwechselnd die Füße gehoben und mit den Armen Bewegungen gemacht, als wollte ich ein flatterndes Hühnchen imitieren. Schließlich beugte sie sich zu mir rüber und fragte: „Kannst du mir was zu trinken holen?“
Als ich wieder kam, tanzten vier Jungs um sie herum und ich musste die Bionade weiterreichen lassen. Ja. So war sie. Etwas Besonderes.
Zu meinem Geburtstag schenkte sie mir Gutscheine. Keine Gutscheine die man bei Media Markt oder Saturn einlösen kann. Es waren handgeschriebene, weiß-karierte Zettel mit solch tollen Inhalten wie: „Einmal mit mir duschen.“
Zuerst fand’ ich das ja ganz schön. Meistens musste ich warten bis sie mit dem Duschen fertig war, bis ich ins Bad konnte. Dann aber, als sich ein kleiner Stapel mit Gutscheinen angesammelt hatte und ich tatsächlich mal einen „Einmal Sex vor dem Frühstück“ einlösen wollte, drehte sie sich nur von mir weg und meinte ich solle es morgen noch mal probieren.
Jetzt wo es vorbei ist, hab’ ich mich auf einer Online-Dating-Seite angemeldet. Ich bin sogar schon ein paar Mal mit Mädels von dort ausgegangen. Aber die sind nichts für mich. Mit Einer war ich beim Chinesen und sie wollte mir allen Ernstes überlassen was für sie zu bestellen. Wer bin ich denn? Ihr Papa? Meine Ex-Freundin hat immer für sich alleine bestellt. Manchmal, wenn es schnell gehen musste und sie Hunger hatte, sogar für mich mit. Sie meinte dann, ich würde doch ohnehin immer die gleiche Pampe bestellen.
Sie war eben ein wirklich gutes Mädchen. Ich vermisse sie. Oh Gott, wie ich sie vermisse.
Hoffentlich ist Mutter bald mit dem Essen fertig. Vielleicht guck ich in der Küche mal nach wie lange es noch dauert …

Block 1 Weekend Update

3.11.
Die Zutaten eines guten Studentenfutters (auch alle nötigen Bestandteile): Haselnüsse, Walnüsse, Mandeln (am besten blanchiert), Cashewkerne und Paranüsse, sowie natürlich Sultaninen. Das wichtigste Kriterium bei der Bewertung des richtigen, des guten Studentenfutters ist die Gewichtung oder besser: Die Zusammensetzung, also wie viel von was. Das große Problem der meisten Studentenfutter-Mischungen im Handel ist der viel zu große Anteil von Sultaninen oder im Volksmund Rosinen. Kein Student würde das jemals zugeben, aber Rosinen brauch eigentlich kein Mensch. Rosinen fungieren grundsätzlich als Bauschaum im Studentenfutter. Sie füllen, aber davon essen … Trotzdem strotzen Ültje & Co. in ihren Studentenfutterkombination nur so vor Rosinen. Ein wahrer Augenöffner war allerdings vor einer Woche die Studentenfutter oder auch Nuss-Frucht-Mischung von Aldi Süd. Gutes Verhältnis der Zutaten, gute Konsistenz. Nicht zu trocken, nicht aufgeweicht. Angepasste Menge. Aber warum nur Aldi Süd? Was soll dieser ganze Nord-Süd-Quatsch bei Aldi, anyway? Es ist gerade so, als hätten die beiden Besitzer-Brüder Deutschland unter sich aufgeteilt und entscheiden nun nach Gutdünken über das Wohlergehen der Konsumenten. Heute gibt es bei Nord einen Desktop-PC, bei Süd einen Laptop. Was ist wenn man in Bayern aber gerne mobil ist? Faschisten! Mein Vater hat es dabei gut. Kurz oberhalb von Fulda verläuft der Aldi-Äquator. Nur fünfzehn Minuten trennen hier die Nord- von den Süd-Geschäften. Dann also Homeoffice und noch einen Rechner für die Bahn. Das Leben kann so wunderbar sein. Da fällt mir ein: Darf ich eigentlich wieder bei Lidl einkaufen? Haben die jetzt einen Betriebsrat? Hat irgendjemand für die gestreikt oder ist auf die Straße gegangen? Nein? Heuchler. Aber für dickbäuchige Zugführer, die sich nicht mal den reellen Gefahren des mehrdimensionalen Straßenverkehrs stellen, einen Protestzug organisieren. Derweil schuften sich vierfache Mütter an Samstagen um den Verstand, ohne Hoffnung auf Weihnachtsgeld oder bezahlten Urlaub. Schweine seid ihr. Worüber haben wir noch mal gesprochen?

4.11
Krieg ich am Ende meiner Tage von Gott eine DVD mit dem Besten aus meinem Leben als 90-Minuten-Zusammenschnitt in die Hand gedrückt? Wenn ja, was für Lieder schaffen es auf den Soundtrack? Einmal Coldplay? Vielleicht Foo Fighters? Nein. Bestimmt nicht. Kommen die unzählbaren Stunden vor Need 4 Speed 2, 3, 4, 5, 6, 7 & 8 vor? Gibt es einen Halo-Zusammenschnitt? Fasst eine raue und weise Stimme meine Erfolge bei Tiger Woods PGA Tour 2007 zusammen? Was ist mit dem Spannungsbogen? Exposition: Geburt (oh! Spitze. Daran kann ich mich jetzt schon kaum mehr erinnern.), Jugend, Schule …
Leben sind wie Filme, oder besser: Ein Leben ist wie eine Marathonvorstellung von allen Police Academy Teilen. Und ich meine wirklich alle Teile. Auch dieser Schwachsinn im siebten Teil: „Operation Moskau“, oder wie der hieß. Was nämlich bei Police Academy wirklich beeindruckend war: Die Abwechslung von Klamauk, peinlichen Situationen, begrenzter Handlung und dann wieder der Anflug von Aktion (immer wieder durchsetzt mit halbseidenen Romanzen und sexuellen Anspielungen). Im Grund genau wie das Leben.
Was aber noch viel beeindruckender ist: Vorrangig ist die Existenz langweilig. So wie alle sieben Police Academy Teile nacheinander. Also wird die 90-Minuten-Zusammenschnitt-DVD dann auch nur ein Staubfänger in meinem Apartment im Himmel. Frag’ mich ob ich da auch Kabel hab’. Vielleicht sind alle Zimmer da serienmäßig mit Plasma-Fernsehern ausgestattet. Aber wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich haben die Matratzen in den Eins-Achtzig-Mal-Neunzig-Betten Schonbezüge drüber und überall riecht es nach Desinfektionsmittel. Ich kann mir Gott auch sehr gut als Meister Proper vorstellen. Die ganze Zeit am Putzen und immer mit diesen vor der Brust verschränkten, muskulösen aber doch nicht zu seiner Glatze passenden, Armen. Ob der Teufel wohl wie Dieter Bohlen aussieht? Und Mark Medlok ist sein Sohn.

Block 1

29.10.
Neuartig an dieser Stadt ist das Geräusch der Straße. Es ist alter Asphalt, der da am Boden liegt. Tausendmal geflickt, tausendmal erneuert. Aber eben alter Asphalt. Köln klingt westdeutsch, sieht westdeutsch aus und riecht sogar westdeutsch. Was nicht heißt: Köln stinkt nicht. Es stinkt. Es riecht, es müffelt. Aber eben westdeutsch. Vielleicht liegt es am Trinkwasser und dem Rest den es in den Urin der … ach. Lassen wir das.
Großartig ist die Tatsache, dass man am Montagabend an einer verlassenen Haltestelle im höchsten Norden des Tarifgebietes 1b in einen Bus steigen kann und eine immigrantisch klingende Frau und ein, allem Anschein nach, Flaschen-Egon (oder: Pfand-Sammler) mir den besten Weg nach Hause erklären. Simultan. Und vollkommen richtig. Ich meine nicht ungefähr. Ich meine vollkommen. Schlafwandlerisch. Beeindruckend. Jetzt werden wieder Einige fragen: Woher wussten Egon und Immi wo ich wohne, aber das ist eine andere Geschichte.
Ich vermisse Berlin. Ja, jetzt schon. Ich vermisse die breiten Bürgersteige für all die Querläufer und Querdenker. Ich vermisse die alt gebauten Häuser und den viel breiter wirkenden Himmel. Gott, aber diese Frauen hier.
Ich meine: Der Rhein ist nicht die Copa Cabana. Lange nicht. Aber irgendjemand hat den Mädels hier beigebracht sich anzuziehen. Und wie. Sie sehen toll aus, selbst wenn es stürmt und gießt. Vorgenommen, für den 30ten, habe ich mir: Das Pferdeschwanzmädchen aus dem Schaufenster von Rossmann, welches das Haargel-Regal umgeräumt hat, anzusprechen. Vielleicht kaufe ich Schaumfestiger. Haargel hab’ ich noch genug.

30.10.
Warum gibt es eigentlich Schichtarbeit? Ich meine, ich verstehe die rein technischen Bedingungen: Nehmen wir eine Produktionskette für Hustensaft. Dort ist es unbedingt notwendig, dass Tag und Nacht produziert wird. Aber bei Rossmann? Frühschicht, Spätschicht, Tagschicht? Nach fünfundvierzig Minuten, die man unentwegt auf die drei zur Auswahl stehenden Schaumfestiger im Regal geblickt hat, hält einen das Personal für geisteskrank und die meisten Passanten für einen Terroristen. Mal ehrlich: Welcher Terrorist würde sich in einem Rossmann hochjagen? Vielleicht bei Schlecker, oder Ihr Platz, aber Rossmann? Wie eitel kann man eigentlich sein. Da kauft doch um die Zeit keiner mehr ein.
Egal. Ich rege mich auf. Nicht gut. Dabei war heut’ wirklich gutes Wetter. Essen war auch gut. Und ich stand zeitgleich in einer Notaufnahme, einem Holding-Büro (wobei ich mir immer noch nicht ganz sicher bin was eine Holding eigentlich ist und warum sie ein Büro braucht), einem Kaminzimmer, einer Schlossküche, einem Salon und einer Empfangshalle. Dazu hab’ ich nicht mal einen Delorian gebraucht. Kleiner Tipp: Wenn mal jemand wissen möchte wie man am besten von Nippes ins Gewerbegebiet Ossendorf kommt: Nicht mit dem 147 über Bilderstöckchen und dann mit dem 148 weiter bis Mathias-Brüggen-Straße. Lieber die 15 und ab Longericher den 139er. Und sollte jemand fragen: Niemals auf Arbeit sagen, man hätte sich in den S- & U-Bahn-Plan rein gekniet. Einheimische mögen das nicht. Ist so wie nen Kaninchenzüchter fragen: „Joa! Is des ein Rüde?“
Morgen schenk ich mir selber einen freien Abend und gucke alte Folgen Seinfeld auf Comedy Central. Schon mal aufgefallen: Das ist in keiner Form lustig. Überhaupt nicht. Na ja, vielleicht auf Koks. We’ll see.

31.10.
Notlügen. Notlügen sind so ungefähr das Anstrengendste auf der Welt. Richtig ausgeführt sind sie nämlich kompliziert, mehrdimensional und so komplex wie Kernreaktoren. Das heißt: Zuerst ist eine Notlüge nie einfach nur: „Tut mir leid. Ich bin im Stau stecken geblieben.“
Man erfindet wendungsreiche Geschichten, wie: „Gerade als ich aus dem Haus wollte, rief meine Mutter an. Natürlich wollte ich gleich das Gespräch beenden, aber sie erinnerte mich daran, dass ab heute bei Media Markt die Espressomaschine von Bosch im Angebot ist. Sie konnte aber nicht vorbei fahren, weil sie auf den Eismann gewartet hat. Deswegen bin ich schnell hin. In Wedding hatten sie keine Bosch-Maschine mehr, also bin ich noch nach Tiergarten.“ Mehr Dimensionen erfährt eine Notlüge über verschiedene Arten des Betrugs und der Erfindung. „Nein. Ich hab’ den Attest nicht nur vergessen, ich werde wohl auch keinen besorgen können: Mein Hausarzt, bei dem ich war, ist für zwei Wochen im Urlaub.“
Und die Komplexität einer Notlüge wird durch unbekannte und schwer beeinflussbare Variablen erzeugt: „Weil es heut’ so kalt war, sprang mein Auto nicht an und ich wusste nicht wann der Bus kommt, weil jemand den Plan an der Haltestelle abgerissen hatte, deswegen wollte ich eine Station laufen – auch damit mir warm wird – da überholte mich der Bus und ich konnte lange auf den Nächsten warten. Die fahren leider nur noch Unregelmäßig, die von der Nahverkehrsgewerkschaft streiken doch.“ Erzähl mal so eine Geschichte im Hochsommer und direkt nach einem neuen Tarifvertrag und in Grunewald, wo jeder weiß: Da reißt niemand Pläne von Bushaltestellen ab und jeder Busfahrer wartet bis der einzige Fahrgast am Tag zur Haltestelle vorgelaufen ist. Ein Letztes:
Notlügen haben nichts mit echten Lügen zu tun. Sie sind moralisch gesehen, eine Grauzone. Genau genommen sind sie gut verzeihbar und eigentlich irgendwie süß. ; )

1.11.
Man stelle sich folgende Situation vor: Eines morgens, alles scheint wie sonst, tritt man aus der Haustür und niemand ist da. Ich meine jetzt richtig „niemand“. Keiner, absolut Nobody! Und wenn man sich zurück erinnert: Man hat auch im Haus niemanden gehört. Keiner da. Nicht im Treppenhaus und auch nicht im Fahrstuhl.
Man geht also ein paar Schritte, horcht und vernimmt: Überhaupt nichts. Kein Auto auf der Straße. Nicht mal ein Bus. Erste Zweifel schleichen sich ein: Traum? Ein David Lynch Film? Oder doch eine Seuche? Ein Angriff von Außerirdischen mit menschenfressenden Todesstrahlen? Eine Hausecke weiter ist man sich sicher: Etwas stimmt nicht. Hier läuft was ganz faul. Schließlich betritt man den U-Bahnhof. Man wartet die veranschlagte Zeit und dann doch: Eine U-Bahn rollt ein. Die Türen öffnen sich, niemand drinnen. Völlig perplex geht man vor zum Führerhaus und doch: Ein kauziger Mann in KVB-Uniform schläft halb über den Kontrollen. Das ist zwar kein vertrauensbildender Anblick, aber immerhin. Ein lebendiger Mensch. Und dann dämmert es mir: Feiertag. Und wir sind nicht in Berlin. Wir sind in Köln, was nach Hauptstadtmaßen in Bezug auf Feiertage in Bayern liegt.
Und das heißt: Niemand geht raus. Niemand spricht und Autofahrer kommen sowieso direkt in die dritte Vorhölle. Mit Hass und Selbstzweifel fahr’ ich also zur Arbeit und tatsächlich: Man arbeitet. Man arbeitet „vor“. Wie blöd ist das denn? In Berlin freut man sich wenn jemand nacharbeitet, hier arbeitet man vor.
Wir können noch viel von Westdeutschland lernen, die Feiertage gehören nicht dazu. Wir – und das sage ich stolz – sind Berliner. Hach wie ich das vermisse.
Trotzdem wurmt mit eins: Warum ist eigentlich der 1.11. ein Feiertag? What the hell happend back then? Irgendwas mit Jesus? Was mit Maria oder Mariä? Ein Kölner würde jetzt aufstehen, sich räuspern und die Krawatte zu Recht rücken, bevor er in melodischen Worten eine fein durchstrukturierte und emotional als Bogen gehaltene Erzählung beginnt. Ein Berliner sagt: Scheiß drauf! Hab ich sowieso nicht frei.

2.11.
VERBOTENE TRIEBE
Die erste Horror-Soap … noch nicht im ersten deutschen Fernsehen.
Erste Szene der Pilotfolge: Zwei Typen fahren in einem Kleinwagen durch das nächtliche, verregnete Köln. Plötzlich fragt der Beifahrer: „Hast du mal nen Stift?“ Der Fahrer kramt, sucht und gibt dann einen Kugelschreiber weiter. Ohne die Mine auszufahren rammt der Beifahrer dem Fahrer den Stift in den Oberschenkel. Ein lauter Schrei. Der Kleinwagen macht gefährliche Schlenker auf der Fahrbahn. „Spinnst du!?“, fragt der Fahrer, sich gleichzeitig das blutende Bein haltend und versuchend auf den Verkehr zu achten. „Wieso?“, will der Beifahrer wissen. „Ich bin der Serien-Psychopath. Hast du die Mail nicht gelesen?“ Enden auf dem entsetzten Fahrer, im Hintergrund ein diabolisches Lachen des Beifahrers. TW. Establishing Shot: Morgendliche Wohnhaussiedlung. In der Küche eines jungen Paares sitzt Er am Küchentisch und schmiert sich ein blutrotes Butterbrot. Sie kommt herein, sucht im Kühlschrank nach Milch, findet nichts und schaut sich dann prüfend in der Küche um. Als Sie das Butterbrot sieht runzelt Sie die Stirn. „Sach ma? Was ist’n mit der Butter los?“ Ertappt schaut Er auf und sieht Sie ängstlich von Unten an. „Ich hab’ heut’ Morgen den Hund geschlachtet und ihn ausbluten lassen. Dann hab’ ich das Blut unter die Butter gemischt.“ „Mensch!“, fährt Sie Ihn an. „Der Hund war für die Feiertage. Jetzt kannst du schön ins Tierheim und einen Neuen aussuchen. Einen mit braunem Fell, der nicht zu mager ist.“ Enden auf Ihm, schuldbewusst.
Schalten sie auch nächste Woche wieder ein, wenn geklärt wird ob Er einen neuen Hund findet und ob der Fahrer überlebt oder am Ende der Beifahrer eine weitere Attacke startet.
(Schlag mich, wenn ich mich irre: Sollte man mir das Keyboard wegnehmen?)

Tatsächlich schon vier Jahre?

Wie war das noch mal mit dem Sex? Was muss ich noch mal bedenken? Was kommt zuerst, was später und was hinterher? Nervös zuppel ich an dem Kondom in meiner Hosentasche herum und versuche es, ohne die rechte Hand von der Brust der Frau unter mir zu nehmen, aus meiner Hosentasche zu ziehen. Aber das Kondom klemmt. Verdammt. Mein Hosenstall ist schon offen und gleich verschwindet die Hose, zusammengefaltet wie eine Ziehharmonika, irgendwo am Fußende des Bettes. Wenn ich bis dahin das Kondom nicht rausbekommen habe, gibt es diesen langen Moment des „Innehaltens & nervös nach dem Kondom suchen“ kurz vor dem eigentlichen Akt selbst. Nein. Bitte nicht. Der sanfte Übergang ist doch alles, oder? Ehrlich gesagt kann ich mich nicht genau erinnern. Das letzte Mal Sex scheint zu lange her zu sein. Es erscheint mir wie eine Ewigkeit. Bin ich tatsächlich schon seit vier Jahren Single? Vier lange Jahre kein Sex? Wie konnte das passieren und warum hab’ ich nie zuvor ein One-Night-Stand gehabt? Oder irre ich mich? War da nicht mal dieses Mädchen, als ich betrunken im Magnet-Club … nein, nein … da war zwar ein Mädchen aber ich war definitiv zu betrunken und hab’ mir hinterher nur auf … auch egal! Jedenfalls jetzt dieses Mädchen. Nein. Diese Frau. Diese Frau hier. Claudia. Was für ein Glück hab’ ich gehabt? War das überhaupt Glück? Ganz alleine in einem Café sitzend und an nichts als das Wochenende denkend, setzte sich Claudia einfach zu mir. Eben ging ich noch die Liste der DVDs durch, die ich am Sonntagnachmittag mal wieder gucken müsste, und dann lächelt mich diese Frau an. Fragt nach einem Feuerzeug und wundert sich dann, dass ich keines habe. Was soll ich schon mit einem Feuerzeug, frage ich zurück. Seit zwei Jahren haben sie bei uns im Haus von Gasherd auf Elektro umgestellt. Claudia lächelt und sagt: Sie findet mich süß.
Oh, dieses Lächeln.
Dieses Lächeln. Sie lächelte auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Sie lächelte auf den Stufen im Treppenhaus, in ihrer Küche und im Wohnzimmer.
Eine Bewegung bringt mich zurück in die Gegenwart: Claudia beginnt mir die Hose herunter zu schieben und mein Daumen und mein Zeigefinger sind immer noch in der kleinen Tasche meiner Jeans eingeklemmt. Warum hab’ ich mir auch das Kondom in die kleine Tasche und nicht in die normale Jeanstasche gesteckt? Warum haben Jeans überhaupt eine kleine Tasche? Ist die für Kleingeld, oder für diese Chip-Marken, mit denen man die Einkaufswagen im Supermarkt kriegt? Und warum ist die kleine Tasche immer nur auf der rechten Seite der Jeans und nie auf der linken Seite? Für Kondome kann die Tasche nicht sein, da wär’ doch längst jemand auf ne bessere Aufbewahrungsmöglichkeit gekommen.
So, ich probier mal was:
Vorsichtig rolle ich mich zur Seite und verlagere mein Gewicht auf nur ein Bein. Jetzt hat Claudia es schwerer mir die Hose auszuziehen. Ob ich kurz mit dem Küssen aufhören soll und vielleicht weiter runter wandere? Über den Hals zur Brust und zum Bauchnabel? Dann hab’ ich auch mehr Zeit wegen der Hose und dem Kondom?
Ich probier’ das mal.
Langsam löse ich meine Zunge aus Claudias Mund und wandere bis zum Kinn. Ein kurzes Stöhnen lässt mich zaudern. Nein, dass klang nach Vergnügen, also weiter. Auf Brusthöhe merke ich: Ich hab’ meine rechte Hand immer noch auf Claudias linkem Busen. Sieht nicht gerade sehr anmutig aus, wie ich da halbseiden zudrücke. Kurz denke ich über eine Massagetechnik nach, die ich bei Kronzuckers Kosmus auf N24 in einem Beitrag über Kobe-Rinder in Japan gesehen habe. Da massieren die doch tatsächlich Schlachtvieh, damit das Fleisch … Nein! Jetzt ist nicht die Zeit dafür. Kurzentschlossen schiebe ich meine rechte Hand weiter runter und kreise, in fast schon schamanenhafter Manier um den Bauchnabel. Oft, wenn ich morgens aufstehe und unter die Dusche klettere, fällt mir beim Ausziehen auf, dass ich so kleine Fussel im Bauchnabel habe. Das sind nicht direkt Staubfusseln, eher Flusen, also eine Art abgeriebene Baumwollelemente vom T-Shirt. Ob Claudia auch … nach kurzer Kontrolle sind die Flusen vergessen. Claudia hat ein Bauchnabelpiercing. Wow.
Die letzte Frau mit Bauchnabelpiercing war gar keine Frau, sondern ein fünfzehnjähriges Mädchen, dass ich aus einer Tram heraus unverschämte zwei Minuten angeglotzt habe, als sie im Hochsommer mit ihren Freundinnen aus der Schule kam. Wow. Ein Bauchnabelpiercing. Bin ich schon so alt? Ist das so ungewöhnlich für mich? Oder liegt es einfach daran, dass ich das letzte Mal Sex vor vier Jahren hatte? Vor vier Jahren, verdammt. Damals war noch ein Mann Kanzler und ich … Sind es tatsächlich schon vier Jahre? Hilfe!
Abgelenkt durch das Bauchnablepiercing hab’ ich doch tatsächlich das Küssen vergessen. Mein Mund klebt irgendwo zwischen Claudias Brüsten und bewegt sich nicht. Sie merkt es zuerst:
„Eingeschlafen?“, fragt sie neckisch. Im Fernsehen fallen den Jungs auf solche Fragen immer so schlagfertige Antworten ein. Mir hängt beim Aufschauen nur ein Spuckefaden von der Unterlippe und ich grinse verlegen. Mein linkes Ohrläppchen beginnt zu pochen. Bestimmt bin ich schon ganz rot im Gesicht. Was für ein Anblick.
„Nein. Noch nicht.“, antworte ich viel zu spät und ich vergesse auch den ironischen Unterton. Soweit ich es aus meiner Perspektive erkennen kann, schaut Claudia einigermaßen überrascht zu mir herunter. Wie komme ich da jetzt nur wieder raus? Ich schiebe mich ein Stück nach Oben und gebe ihr einen Kuss. Viel zu feucht natürlich. Ich hätte die Spucke vielleicht mal runterschlucken sollen. Claudia übergeht das freundlich.
„Na? Hast du das Kondom endlich aus deiner Hose gefummelt?“, fragt sie grinsend.
Plop. Es ist tatsächlich frei. Meine zitternde Hand umklammert triumphal das verpackte Stück Latex. Ich präsentiere Claudia die weiß-verschweißte Kondom mit dem blauen Aufdruck des Herstellers und sie nickt anerkennend.
„Gut. Dann können wir ja weitermachen.“
Ich weiß nicht wie und ich weiß nicht warum, aber scheinbar wird man – wenn man häufiger Sex hat – einfach lockerer mit diesen Situationen. Claudia sieht wie eine Frau aus, die häufiger Sex hat und sie verhält sich auch so. Ich dagegen … na ja … ich bleibe wohl mein ganzes Leben eher ein … Amateur in diesen Situationen.
Als Claudia und ich tatsächlich drei Minuten später beide nackt sind, schwitze ich vor Aufregung so stark, dass sich unter meiner Nasenspitze kleine Tropfen bilden. Ruhig und auf meinen Herzschlag konzentriert, versuche ich mir ein paar Regeln ins Gedächtnis zu rufen:
Es ist okay beim Sex zu schwitzen. Du machst nichts Anderes als alle Anderen, sage ich mir. Dann allerdings:
„Hui. Du schwitzt aber ganz schön.“ Scheiße. Soviel zu „wie alle Anderen“!
Ohne auf Claudias Kommentar einzugehen, versuche ich jetzt das Kondom überzuziehen. Sowas hab’ ich schließlich schon mal gemacht. Früher hatte ich viel Sex. Viel, gemessen an den letzten vier Jahren. Kann doch nicht so schwer sein. Wie Fahrradfahren.
Ein bisschen Luft drin lassen und dann einfach abrollen. Ganz einfach.
Wie? Einfach abrollen? Wie rum muss ich das abrollen? Die Rolle nach Oben oder nach Unten. Rein technisch betrachtet muss die Rolle doch nach Oben um …
„Soll ich dir helfen?“ Und schon hat sich Claudia das Kondom gegriffen, dreht es herum, setzt es auf und schwups! Haha, ganz schön kalte Finger.
Kalte Hände sind das Resultat von Gefäßverengung und mangelnder Durchblutung, hab ich gelesen. Das kann zu Taubheit und … Huar! Was war das?
„Wie fühlt sich das an? Gut?“ Wow. Jedes Kobe-Rind das so massiert wird, stirbt glücklich auf der Schlachtbank. Aber wie antwortet man auf so eine Frage? Soll ich nicken? Im Anbetracht meiner momentanen Körperspannung, könnte ich Claudia gut und gerne bei einem plötzlichen Nicken die Nase blutig schlagen. Also, was soll ich sagen? ‚Super`? Nein. Super klingt nicht. ‚Toll’? Toll klingt nach meiner Mathelehrerin. ‚Genial’ geht auch nicht, zu technisch, genauso wenig wie ‚wunderbar’, hört sich gehaucht wie ‚Wonderbra’ an.
Ich rücke also mit meinem Mund an Claudias Ohr und flüstere mit bebender Stimme: „unglaublich … du … bist … wirklich unglaublich“.
„Danke. Du bist dran.“
Genau! Jetzt fällt es mir wieder ein! Vorspiel. Es geht alles ums Vorspiel. Verdammte Zucht. Wie konnte ich das vergessen. Was für ein Idiot bin ich nur. Vorspiel. For christs sake! Nachdem ich den trockenen Geschmack im Mund herunter geschluckt habe, bewege ich meine rechte Hand abwärts. Ob das mal gut geht. Die erste Berührung ist entscheidend. Nicht zu tollpatschig. Bloß nicht direkt ins Schlachtfeld vorstoßen. So eine Angelegenheit muss taktisch angegangen werden. Schrittweise Infiltration und … Mein Gott. Ich rede schon wie mein Vater. Liebe Güte. Ist es schon so weit? Mein Vater, der alle Dinge im Leben mit Militärmetaphern auflöste, sprach genauso. Na ja, nicht ganz genauso, schließlich sprach er nicht über Sex. Jedenfalls glaube ich, dass er nicht über Sex sprach, bei all den Metaphern kann man das natürlich nicht so richtig sagen.
Als ich Acht war, meinte er vor einem Fußballspiel zu mir, ich solle jetzt da raus gehen und ohne Rücksicht auf Verluste auf der eigenen Seite die Gegner gnadenlos an jedem Raumgewinn hindern, auch wenn es das Letzte sei was ich jemals täte. Glück für den Gegner war an diesem Sonntag: Ich war mal wieder zu klein und schmächtig um überhaupt eingesetzt zu werden.
Nun aber Claudia. Wie komme ich dazu hier in die Sprache meines Vaters zu fallen? Immerhin ist Claudia nicht eine Landzunge in der Normandie oder eine Häuserblock in Stalingrad. Hier geht es um Gefühle und … Himmel! Das Bauchnabelpiercing ist also nicht das einzige Piercing. Was wohl passiert, wenn …
„Hach.“ Oh! Okay. So geht das also. Na dann. Auch irgendwie praktisch.

Eine halbe Stunde später sind wir fertig. Oder: Ich bin fertig. Diesmal nicht nur mit den Nerven. Claudia schwitzt jetzt auch. Jedenfalls hoffe ich dass sie schwitzt. Sollte die gesamte Flüssigkeit auf ihrer Haut von mir kommen … das wäre mir schon sehr peinlich.
Vorsichtig drücke ich mich etwas hoch und schmatzend meinen Oberkörper von ihrem Oberkörper.
Jetzt kommt nur noch die Sache mit dem gebrauchten Kondom. Oder sagt man „volles Kondom“? Also richtig voll ist es noch nicht, obwohl ich glaube die handelsübliche Menge erreicht zu haben und … na ja … ich hab’ nirgendwo eine Füllmarke gesehen. Wie auch immer. Erstmal das Ding überhaupt runterkriegen.
„Ehm … das Bad?“, frage ich und versuche dabei so cool wie möglich zu wirken.
„Willst du nicht zuerst mal rausziehen?“
Oh. Richtig. Fast vergessen. Ich hatte tatsächlich sehr lange keinen Sex mehr. Dafür, dass es die schönste Sache der Welt ist, ist es verdammt anstrengend und es gibt überall diese kleinen Fallen und Tricks und Dinge die man beachten muss.
Vielleicht bin ich auch einfach nicht für Sex gemacht. Ich hab’ schließlich andere Talente. Ich kann den sechshundert Teile Revell-Bausatz des Leopard-II-Panzers in weniger als vierzig Minuten zusammensetzen. Bei Monopoly gehören mir nach knapp einer halben Stunde alle vier Bahnhöfe und ich kann zu fast jeder Situation im Leben aus Büchern von H.P. Lovecraft zitieren. Nur zu dieser Situation fällt mir nichts ein.
„Klar.“, ist alles was ich herausbringe. Dann gibt es ein komisches Geräusch, gleichzeitig schmatzendes und pfeifendes Geräusch. Es erinnert ein bisschen an diese Quietsch-Hupe aus dem Tabu-Spiel. Letztes Jahr zu Weihnachten haben meine Eltern mir das Spiel geschenkt und wir haben den gesamten Heiligabend mit – – – jetzt sollte ich vielleicht doch nicht dauernd an meine Eltern denken.
Ich stehe auf und Claudia weist mir den Weg zum Badezimmer.
Dort angekommen, bin ich drauf und dran das gefüllte und verschnürte Kondom ins Klo zu werfen. Doch mir fällt etwas ein, das ich entweder vor Urzeiten in der Bravo gelesen habe oder mein Onkel mir erzählt hat. Wie bei den meisten Jungs sind sowohl Onkel, als auch Bravo, für mich immer Aufklärungshilfen Nummer Eins gewesen.
Und eine dieser Hilfe hämmerte mir folgenden Satz ein: Kondome gehören nicht ins Klo. Also wickle ich das Kondom in drei Abschnitte Toilettenpapier und werfe alles zusammen in den Mülleimer. Bevor ich zurück zu Claudia, zurück ins Schlafzimmer und zurück ins Bett gehe, wundere ich mich, ob vielleicht alles etwas einfacher wäre, wenn ich nicht so viel darüber nachdenken würde. Und es wäre doch nicht schlecht, wenn alles etwas einfacher wäre. Ja. Das wäre echt ein Fortschritt. Vielleicht in vier Jahren.